Das fremde Jahr (German Edition)
wie er ist, der Mann des Hauses, reserviert und unergründlich, obwohl ich den Verdacht habe, dass er nicht immer sehr subtil ist. Herr Bergen hat etwas Schweres an sich, was ihm vermutlich gar nicht bewusst ist. Mir scheint, als wäre er nie an seinem Platz, stünde immer ein bisschen neben sich; ich glaube, dass er nicht stören möchte, er ist diskret und störend zugleich, wie in diesem Moment, als er unten im Flur auf seine Frau wartet; er kommt nicht auf die Idee, den Wagen schon mal anzulassen und in die Fahrtrichtung zu stellen; nein, er eilt seiner Frau nicht voraus, er bleibt stehen und tut nichts außer rauchen, er versucht nicht, etwas Nützliches zu tun, er wirkt fast verloren und bereits allein, ohne die Frau, die oben offenbar endlos zu tun hat, ohne dass ein Mensch wüsste, was das sein könnte. Er wirft einen Blick auf seine Uhr, ruft: »Liebling!«, und ich spüre in seiner Stimme einen Hauch von Unruhe, er ruft erneut und geht schließlich hinauf zu seiner Frau. Ich habe mich getäuscht, sie haben sich nicht gestritten, Herr Bergen klingt nicht, als wäre er verärgert. Ich höre, wie er die Tür zum gemeinsamen Schlafzimmer öffnet und hinter sich schließt. Ich weiß nicht, was danach passiert, ob sie miteinander reden, sich berühren, ich empfinde mich als überflüssig in diesem Haus, nicht befugt, Zeugin einer Szene zu werden, die zum Privatleben anderer Menschen gehört. Deshalb will ich gerade ins Untergeschoss gehen, als ihre Zimmertür wieder aufgeht, und ich glaube, Frau Bergen weinen zu hören. Ich wage nicht, weiter nach unten zu gehen, man könnte denken, ich wolle fliehen, aber dennoch fände ich es taktlos, einfach stehen zu bleiben. Deshalb stürze ich mich, als wenn ich ein schlechtes Gewissen hätte, ins untere Klo, um abzuwarten, wie es weitergeht. Ich höre ihre Schritte auf der Treppe, dann in der Küche, ich höre, wie eine Schranktür zugeschlagen wird, der Wasserhahn an- und zugedreht wird, und ich nutze diesen Moment, um aus dem Klo zu gehen, so diskret wie möglich, und befinde mich genau zwischen Klo und Küche, als ich Frau Bergens Gesicht sehe, noch immer in Tränen, und mir fällt nicht ein, was ich in einer solchen Situation sagen könnte: Es würde mir schon auf Französisch schwerfallen, was könnte ich da erst auf Deutsch sagen, in einer so heiklen Situation? Mit welcher Floskel könnte ich mein Mitgefühl ausdrücken? Wieder einmal bleibe ich stumm, wie eine Vierjährige, stumm aus Unwissenheit, mit einer vermutlich völlig deplatzierten Körperhaltung: Ich beiße mir unwillkürlich auf die Lippen und ziehe die Augenbrauen hoch – die einzigen lächerlichen Reaktionen, die ich zustande bringe, um Frau Bergen gegenüber eine gewisse Herzlichkeit zu bezeugen. Herr Bergen legt ihr einen Arm um die Schultern, schiebt sie behutsam zur Haustür hinaus und hält ihr die Wagentür auf, damit sie einsteigen kann. Und dann bin ich endlich allein im Haus, und Frau Bergens mysteriöse Tränen hinterlassen in mir den schalen Geschmack von schrecklicher Einsamkeit.
Der Abend mit den Kindern verläuft fröhlich und entspannt. Ich mache Crêpes mit ihnen und sie dürfen sie hochwerfen (wie ich meiner Mutter am Telefon erzählt habe und was mich überhaupt erst auf diese Idee gebracht hat). Ich habe den Eindruck, dass Thomas und Nina sich freuen, dass ihre Eltern nicht da sind, sie nutzen das Haus anders, bleiben weniger lange in ihren Zimmern, halten sich lieber in meiner Nähe auf. Wir sitzen lange in der Küche, mit dem Hund zu unseren Füßen, und amüsieren uns köstlich über die Schimpfwörter, die die Kinder mir beibringen, wenn eine Crêpe misslingt oder nicht richtig in die Pfanne zurückfällt. Wir werden sogar richtig ausgelassen, Thomas provoziert seine Schwester, und ich muss dazwischengehen und ihm sagen, dass er sie in Ruhe lassen soll. Alles in allem aber sind wir froh, dass wir nur zu dritt sind, die Crêpes mit den Fingern essen können, wie und wo wir wollen, wobei wir allerdings ständig darauf lauern, ob Scheinwerferlichter zu sehen sind oder der Motor des VW -Busses zu hören ist. Ich finde es erholsam, einen Abend lang nicht an korrektes Sprechen denken zu müssen, ich vermische Deutsch und Französisch, und die Kinder lachen, wenn ich sage: »Scheiß de merde« oder »Dummheit de connerie«, und wir taufen jede Crêpe, bevor wir sie aufessen, mit einem deutschen oder französischen Namen. Ich finde es befreiend, keine gepflegte Unterhaltung mit zwei
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