Das fremde Jahr (German Edition)
finden, ohne die Sprache als wichtigstes Werkzeug – gelingt einem nur, wenn man jede Sekunde wachsam und extrem geistesgegenwärtig ist. Man muss einfallsreich und raffiniert sein. Man muss abschätzen können, was man sagt, und was man glaubt, gesagt zu haben, und auch was man denkt, verstanden zu haben; man muss die Art einschätzen können, wie die Wörter sich in einem einprägen, diese fremden Wörter, die oft nur einen Klang haben, ohne dass sie einen Sinn ergeben würden, einem aber trotzdem unter die Haut gehen; man muss wach und bewusst bleiben; akzeptieren, dass man lernt, ohne zu begreifen; handeln, ohne zu wissen, worum es geht; sich angstfrei etwas einflößen lassen; darf keine Angst davor haben, sein Gehirn umzustrukturieren; muss empfänglich sein, aber nicht durchlässig; dafür sorgen, dass man nicht auffällt, ohne sich selbst zu vergessen; dicht an den Wänden entlangschleichen, ohne sich zu verlieren; hier und dort zugleich sein; man muss mehr deuten können als verstehen; den Eindruck vermitteln, als sei man einverstanden und allem, was geschieht, gewachsen. Ich muss einen sechsten Sinn haben, permanent doppelt da sein, nach kleinsten Anzeichen, jedem minimalen Anhaltspunkt Ausschau halten.
Was die Sache jedoch kompliziert macht, ist der Umstand, dass man als Au-pair-Mädchen in keinem einfachen Arbeitsverhältnis steht. Man erwartet von der jungen Frau eine Dienstleistung, aber auch eine besondere Präsenz, eine Art und Weise, präsent zu sein, eine Bindung aufzubauen, man erwartet von ihr, dass sie ihre Zeit gibt, ihre Geduld, ihre Energie, wie es eine ewig wohlwollende große Schwester es täte. Man erwartet von ihr, dass sie den Hauch Exotik beisteuert, der den Unterschied ausmacht, dessentwegen man sie ausgewählt hat, damit sich die Familie durch ihre »so besondere« Präsenz, durch ihre unnachahmliche französische Art, von der sie selbst offenkundig nichts weiß, aufwertet. Im Gegenzug gibt man ihr Worte, Sätze, Satzmelodien, grammatikalisch richtige Satzbauten, Lektionen in Sachen deutsche Kultur, Geschichte, Geographie und manchmal auch Kunst. Eine Präsenz gegen eine Sprache, Aufmerksamkeit gegen Kost und Logis. Essen, schlafen, sprechen. Man gibt dem Au-pair-Mädchen auch menschliche Wärme, menschliche Materie, Unmengen von Verwicklungen sowie Konflikte, Unbesagtes, Benzindämpfe und Unterwäsche zum Zusammenlegen, man gibt ihm Rätsel, die es zu lösen gilt, Schreie und Tränen, Gelächter und zuschlagende Türen, Badewannen, aus denen es das Wasser ablassen soll, Kinder, die im Wald verschwinden. Man will ein Mädchen, das fröhlich ist, energisch, tüchtig, großmütig und einfallsreich. Man will ein Mädchen, das frischen Wind in die Familie bringt, ein Element, das neue Substanz verleiht, man will jemanden, der die Fenster aufmacht, die abgestandene Luft vertreibt, schlechte Gewohnheiten aufspürt und eine neue Art des Zusammenlebens erfindet. Man braucht das Mädchen weniger zum Bügeln als vielmehr für eine allgemeine Wiederinstandsetzung. Man will eine Fee, ein strahlendes junges Mädchen voller Lebensfreude. Aber die junge Frau selbst – wer interessiert sich dafür, wer sie ist? Man verlangt nicht von ihr, dass sie ein Eigenleben hat, eine Vergangenheit, nicht einmal ein Gemüt. Am allerwenigsten will man die Details ihrer Geschichte kennen, man weiß nur, dass sie Deutsch lernen will, und ist froh, dass sie bei einem selbst gelandet ist und nicht bei einem der Nachbarn; man findet, dass sie komische Musik hört, man erkundigt sich einmal nach dem Beruf ihrer Eltern, worauf sie antwortet, ihr Vater verkaufe japanische Autos, was eine gewisse Zeitlang gestimmt hat, und ihre Mutter sei Französischlehrerin, was schlichtweg falsch ist. Ich löse mich auf in der Identität eines Mädchens, das vollkommen anders ist als ich, ich bastle mir nach und nach eine neue Persönlichkeit zusammen, in die ich ganz sachte hineingleite. Es tut mir gut, mir eine Identität zuzulegen, andere Eltern zu erfinden, eine Mutter zu haben, die Französisch unterrichtet und einen kleinen Bruder, der wieder am Leben ist.
Ich liebe die Art, wie Thomas Mann vom Vergehen der Zeit spricht, ich habe schon fast hundert Seiten gelesen, doch im Leben von Hans Castorp ist nur ein einziger Tag vergangen, in einem ganz besonderen Rhythmus, denn im Sanatorium geschieht so gut wie nichts, und jede Kleinigkeit ist ein Ereignis, das die auf ihr eigenes Ende wartenden Menschen zutiefst bewegt. Es
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