Das fremde Jahr (German Edition)
Erwachsenen führen zu müssen, die mir Fragen stellen, ohne sich wirklich für mich zu interessieren. Neulich haben sie mich gefragt, wo wir in den Ferien hinfahren, meine Familie und ich, ob uns die Côte d’Azur gefällt. Ich hätte gern scherzhaft geantwortet, dass es meinen Eltern an der Côte d’Azur nicht gefällt, weil es dort zu viele Touristen gibt, besonders deutsche, aber für eine derartig gewagte Antwort hätte ich verdammt viel Fingerspitzengefühl gebraucht. Ich hätte ihnen gern erklärt, dass die Franzosen auf die Deutschen neidisch sind, wegen ihrer Kaufkraft und ihrer starken D-Mark; die Franzosen haben Minderwertigkeitskomplexe auf den Campingplätzen oder in den kleinen Hotels: Sie nehmen die billigeren Zimmer und gehen nur selten ins Restaurant, während sich die Deutschen Vorspeisen, Desserts und ein Getränk pro Kind leisten; die Deutschen sind in Frankreich wie Könige, nach Aussage meines Vaters, sie konsumieren Dinge, die sich der normale Franzose nicht leisten kann. Der Franzose verkraftet die Stärke der D-Mark nur schlecht, ebenso wie die Vorstellung, im eigenen Land als arm zu gelten, und wenn mein Vater hier wäre, hätte er eine Menge dazu zu sagen … oder würde vermutlich eher schweigen und sich zurückhalten, weil meine Mutter ihm den Mund verbieten würde. Eine Konversation dieser Art mit den Bergens ist natürlich unmöglich für mich, weil ich die Nuancen ihres Standpunktes nicht verstehen würde, ich weiß nicht, wie weit ich gehen kann, ich weiß weder, ob sie Sinn für Humor haben, noch ob sie auch etwas einstecken können. Und um so schonungslose Ansichten wie die meines Vaters gegenüber den Deutschen, die in Frankreich Urlaub machen, auszusprechen, brauchte ich ein wesentlich größeres Repertoire an Wörtern als meinen Grundwortschatz, bestehend aus: »Ich mag …« und »Ich mag nicht …« oder: »Ich kenne, ich kenne nicht« oder auch: »Ich weiß, ich weiß nicht …« Ich erinnere mich, dass ich auf die Frage zur Côte d’Azur geantwortet habe, ja, wir lieben die Côte d’Azur, woraufhin die Bergens sagten, das täten sie auch, und ihren Satz mit einem überschwänglichen »Sehr schön!« unterstrichen haben, um mir eine Freude zu machen und auf meinem niederen Niveau zu bleiben. Weil es für mich zu mühsam gewesen wäre, ihnen zu erklären, dass meine Eltern die Bretagne vorziehen, das Plateau du Vercors, das größte Naturschutzgebiet Frankreichs, in den Alpen gelegen, oder die Vulkane der Auvergne – also eher einsame, uninteressante Plätze, wo sie uns, meine Brüder und mich, im Sommer hinzuschleppen pflegten – behielt ich es für mich. Ich erwähnte nur, dass die Bretagne auch schön sei, doch da die Bergens die Bretagne offenbar nicht kennen, ließ ich dieses Thema schnell wieder fallen, und so schlief auch dieses Gespräch wie die meisten unserer Unterhaltungen schnell wieder ein. Sie vergaßen mich und wandten sich den Kindern zu. Ich erinnere mich, dass ich trotzdem einen letzten Anlauf machte, weil ich unbedingt noch erwähnen wollte, dass ich die Bretagne liebe, wegen der Crêpes nämlich (Pfannkuchen) und auch, um »du crabe« zu essen (Krabbe oder Krebs, ich verwechsle diese beiden Wörter ständig). Ich weiß nicht, warum ich das sagte, denn während unserer Bretagne-Urlaube hatten wir nie »crabe« gegessen, aber ich habe oft davon geträumt.
Instinktiv weiß ich, dass die Lügen, die ich auf Deutsch erzähle, eigentlich keine richtigen Lügen sind. Wenn ich nicht ausdrücken kann, was ich wirklich gemacht habe, sage ich eben, was ich nicht getan habe, aber hätte tun
können
. Manchmal ist der Unterschied gar nicht so groß. Wenn ich nicht ausdrücken kann, was ich wirklich denke, sage ich, was ich denken
könnte
. Was macht das schon? Mir wird klar, dass die Vergangenheit, das Leben und die Vorlieben eines jeden im Hier und Jetzt kaum von Bedeutung sind. Welchen Unterschied macht es für die Bergens, ob ich in Paris oder in Lyon wohne, ob ich lieber ans Meer oder in die Berge fahre, ob mein Sittich davongeflogen ist oder nicht? Es geht nicht um viel, wie bei jedem Arbeitsverhältnis: Man muss sich von seiner besten Seite zeigen, darf nicht auffallen, nicht zu eigenständig oder schräg wirken, muss unparteiisch und immer gut gelaunt sein, folgsam, aber nicht unterwürfig sein, aufmerksam, aber nicht aufdringlich, und sich jeder Situation anpassen. Diese Tour de force – sprich: die richtige Distanz und den richtigen Platz zu
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