Das fremde Jahr (German Edition)
weit von mir entfernt, und die Sehnsucht nach ihm schmerzt; es kann aber auch die Sehnsucht nach Leo sein, das kann ich nicht mehr unterscheiden. Ich bin aufgebrochen, um die Leere umzugestalten und andere Himmel, andere Wörter auszufüllen. Aber die Leere gräbt neue Gänge in mir, erwartet mich dort, wo ich nicht mit ihr gerechnet hätte. Der Autobus fährt gemächlich vor sich hin, und ich würde am liebsten einschlafen, den Kopf an der Scheibe. Vergessen, dass ich gleich nach dem Stadtrand aussteigen muss, um in die Stadtbücherei zu gehen und wieder in einer fremden Sprache zu lesen und zu schreiben, mich meiner Substanz zu entleeren, mein französisches Gedächtnis durch deutsche Sätze zu ersetzen, durch Personen aus einem anderen Jahrhundert, Personen mit anderen Lebensbedingungen, die jedoch ebenfalls gegen Kummer und den Tod ankämpfen. Doch der Tod anderer ist nicht zwangsläufig ein tiefer seelischer Schmerz, das wird mir klar, als ich den
Zauberberg
lese, die Angst vor dem Tod gibt einem ganz im Gegenteil einen Sinn im Leben, sie hält das ganze Buch zusammen, hält einen in Atem, fasst die Worte des Schriftstellers zusammen. Aber der wahre Tod, der Tod, den man nicht in den Büchern findet – ich wüsste gern, wie man ihn durchlebt und ob man ihn eines Tages hinter sich lassen kann. Ich dachte, es würde genügen, wenn man mehr als tausend Kilometer zurücklegt, doch das stimmt nicht: Leos Tod ist gleich hinter der Fensterscheibe des Autobusses, er ist im Fahrgastraum, abends in meinem Bett, liegt in der Musik von
Joy Division
, die ich unter meiner Decke höre, in den Bewegungen von Thomas, wenn er morgens sein Mofa startet; er ist zu einem Teil von mir geworden und ich kann mich nicht von ihm trennen.
Ich bummle noch ein bisschen durch die Straßen, bevor ich in die Bücherei gehe, um den Augenblick hinauszuschieben, in dem ich mich an die Arbeit mache. Niemand zwingt mich zu lesen oder zu schreiben, niemand erwartet etwas von mir. Die Bücherei ist nur mein Alibi, das von mir erfundene Szenario, um dem Haus der Bergens zu entfliehen und mich der Illusion hinzugeben, eine eigene Geschichte aufzubauen, etwas, das nur mir gehört. Ich brauche einen Weggefährten und habe Thomas Mann für diese Rolle ausgewählt, aus Bequemlichkeit vielleicht, da er in der ganzen Stadt präsent ist, aber auch, weil dieser Mann mich neugierig gemacht hat, von dem ich nichts weiß, außer dass er wie sein Romanheld in einem Sanatorium war und sein ganzes Leben lang den Nazismus bekämpft hat. Indem ich in den Werken in der Stadtbücherei herumblättere, erfahre ich, dass Thomas Mann auch den
Tod in Venedig
geschrieben hat, dass er den
Zauberberg
1924 veröffentlicht hat, einen Roman, an dem er über zehn Jahre lang geschrieben hatte, und dass er 1929 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam. Ich erfahre außerdem, dass der Schriftsteller 1933 in die Schweiz emigriert ist, später in die Vereinigten Staaten, um erst lange nach Kriegsende nach Europa zurückzukehren, sich aber weigerte, jemals wieder auf deutschem Boden zu leben. Ich gehe, und es wird windig, der Himmel klart auf, und das Geschrei der Möwen begleitet mich für einen Moment. Die ersten Sonnenstrahlen erhellen plötzlich die Backsteinfassaden, und ich kann zum ersten Mal das Meer riechen.
Als ich meiner Mutter sage, dass ich inzwischen Hemden bügeln kann, höre ich sie am anderen Ende der Leitung lachen, fast so, als sei dies eine erfreuliche Nachricht. Aber es handelt sich nur um ein kleines, künstliches Lachen, ein Lachen, in dem eine gewisse Ironie mitschwingt. Dann fragt sie mich, ob ich mich noch immer gut mit den Kindern verstehe, und ich erzähle ihr, dass wir Crêpes machen, wenn sie aus der Schule kommen, mit dem Hund rausgehen und im Keller Tischtennis spielen (das ist keine richtige Lüge, denn in einer Ecke steht tatsächlich ein zusammengeklappter Pingpongtisch). Ich erzähle auch, dass ich manchmal mit dem Bus in die Stadt fahre und in die Bücherei gehe. Sie spielt auf die Briefe an, die ich Simon schicke, und macht eine Pause, reicht mir eine Hand, die ich jedoch nicht ergreife. Ich verstehe ihre unausgesprochene Andeutung, aber ich habe nun einmal nichts dazu zu sagen; ja, ich schreibe Simon, und wenn ich meine Worte wähle, stelle ich mir immer vor, dass sie von meiner Mutter gelesen werden könnten, falls sie auf die Idee käme, den Brief zu öffnen. Ich weiß nicht, warum ich denke, dass meine Mutter versucht sein
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