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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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Tiefe zu haben. Ich kann beispielsweise nicht sagen, dass ich Schiffe und Fähren hasse, weil mir darauf schlecht wird (was stimmt), dass ich an diesem Sonntag lieber länger im Bett geblieben wäre, mich in meinem Kellerkabuff verschanzt hätte, um die Benzindämpfe einzuatmen, während ich Musik höre und zum x-ten Mal Simons Briefe lese. Ich darf nicht aussprechen, dass Herr Bergen offenbar übermäßig große Anstrengungen macht, um seine Kinder zu unterhalten, während sich seine antriebslose Frau lieber in ihrem Haus verbarrikadiert. Ich kann nicht reden, aber das habe ich verstanden, und folglich werde ich gegen meinen Willen zu Herrn Bergens Verbündeter; etwas sagt mir, dass ich ihm das Leben nicht schwerer machen darf, als es ist, und seine Ohnmacht nicht noch verstärken, da er nichts unversucht lässt, um uns einen Zeitvertreib zu bieten, um diesen düsteren Tag zu einem kleinen Höhepunkt zu machen, der seinen Kindern und auch ihm selbst in Erinnerung bleiben wird, der sich als Meilenstein in ihrem Gedächtnis einprägen wird und dessen Leuchtkraft sie an glückliche Stunden erinnern wird. Ich merke, dass auch sie diese Überfahrt zum ersten Mal machen, ein immer wieder hinausgeschobenes Unternehmen wird endlich wahr, und das ist vermutlich ein kleiner Sieg für Herrn Bergen, der weiß, dass er sich später daran erinnern wird, ebenso wie Nina und Thomas, dass an dem Tag, als sie damals auf dem Schiff nach Dänemark gefahren sind, ihr Au-pair-Mädchen dabei war. Sie werden die Fotos anschauen und nicht mehr recht wissen, ob Frau Bergen auch dabei war oder nicht. Als wir in Dänemark an Land gehen, sind wir guter Dinge, auch ich, als wären wir stolz darauf, dem stürmischen Wellengang getrotzt zu haben. Thomas und Nina laufen davon, wie zwei Jungtiere, die Auslauf brauchen. Herr Bergen weiß offenbar nicht, wie es weitergehen soll. Er nimmt seine Tasche, seinen Hut, versucht in einer windgeschützten Ecke eine Zigarette anzuzünden, und zum ersten Mal hält er mir sein Päckchen hin, eine überraschende Geste; eine Geste, die vermutlich alle Eltern schockieren würde, ich aber als Zeichen der Anerkennung empfinde, auf das ich vielleicht gewartet habe; es bedarf keiner Worte und keines Vokabulars, um zu begreifen, worum es in diesem Augenblick geht, als er mich mit dieser eindeutigen, komplizenhaften Geste auffordert, mit ihm zusammen eine Zigarette zu rauchen. Herr Bergen nimmt mich in die Welt der Erwachsenen auf, wie ich vage spüre. Unsere Blicke treffen sich nur selten, und wir wechseln nur kurze Sätze. Aber dass etwas passiert, ist unverkennbar. Eine Schwelle wurde überschritten, aber ich weiß noch nicht, in welche Richtung es geht.
     
    Wir gehen am Strand entlang, Nina sammelt Muscheln für ihre Mutter, sie hüpft von einem Ponton zum nächsten, beugt sich bis ganz dicht übers Wasser und lässt keine gefährliche Situation aus. Man muss hinter ihr herlaufen, sie ständig ermahnen, ihr bald befehlen, bei uns zu bleiben. Thomas fängt an zu trödeln, er scheint nicht begeistert über den Ausflug nach Dänemark zu sein. Er verschwindet unter seiner großen Kapuze, entzieht sich auf diese Weise der Welt, tut alles, um sich unerreichbar zu machen. Herr Bergen geht voraus, den Kopf gegen den Wind gesenkt, ohne etwas über die Landschaft zu sagen. Ich weiß nicht, wie lange wir noch weitergehen wollen, ich marschiere einfach am Strand entlang, ich habe Hunger. Wir setzen uns in einiger Entfernung vom Ufer in den Schutz eines Tannenwäldchens und packen die mitgebrachten belegten Brote aus. Nina hat wie so oft einen Bärenhunger. Seit dem Morgen hat sie wieder diesen Blick, der mir nicht gefällt: leer und weit weg, den Blick eines bekümmerten, verunsicherten Kindes. Ich frage mich, was wir hier täten, wenn Nina plötzlich verschwinden würde. Aber Nina hat nicht die Absicht zu verschwinden, sie schmiegt sich an mich und fragt, ob sie das süße Stückchen, das ich angebissen habe, aufessen kann. Thomas erkundigt sich, um wie viel Uhr unser Schiff zurückgeht. Herr Bergen verdreht die Augen und antwortet, dass er diesen Ausflug extra für sie geplant habe, ja, genau, ihretwegen seien wir in Dänemark, nur für sie habe er sich die ganze Mühe gemacht. Und nach einer Weile fügt er hinzu: »Auch für Laura, natürlich.« Wir gehen weiter, an dem Nadelwald vorbei, der hell und duftend da steht, und mit einem Mal freue ich mich, hier zu sein, ich habe keine Ahnung, wo das plötzlich herkommt, warum ich

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