Das fremde Jahr (German Edition)
gibt nichts außer dem Warten, den vielen Mahlzeiten, den mondänen Unterhaltungen, den obligatorischen Ruhestunden auf dem Balkon, den ärztlichen Visiten und der Angst vor der Diagnose. Das Messen der Temperatur ist ein Abenteuer, da das Leben des Patienten davon abhängt. Ich bin fasziniert von der Art, wie Thomas Mann über die Krankheit spricht, wie sie unsichtbare Furchen gräbt, wie der Tod kommt, ohne dass er ihn jemals als Drama empfindet. Ich verstehe nicht, wieso ich mich so sehr an dieses Buch klammere, es gibt kaum Handlung, keine unerwarteten Wendungen; es ist nur ein langes, quälendes Atemholen, das mich in seinen Bann zieht und somit ständig in der Schwebe hält.
Früh am Morgen brechen wir zur Reise nach Dänemark auf. Am Vorabend haben wir in der Küche Brote belegt und eingepackt. Thomas und Nina sind fertig, Herr Bergen kümmert sich um das Frühstück, schlurft in seinen Pantoffeln von einem Zimmer ins andere, eine Zigarette zwischen den Lippen. Frau Bergen ist noch nicht heruntergekommen, sie wartet vermutlich bis zum letzten Moment. Der Morgen hat eine ungewöhnliche Beschaffenheit. Eine fast bedrohliche Ruhe. Als würde man die Luft anhalten. Als Herr Bergen mir im VW -Bus den Beifahrersitz anbietet, begreife ich, dass Frau Bergen nicht mitkommen wird. Aber ich wage nicht, nach ihr zu fragen. Alle tun so, als ob nichts wäre. Wieder einmal werfe ich mir vor, dass mir ein wichtiges Detail offenbar entgangen ist. Wir fahren in den menschenleeren Morgen, nehmen die Straße nach Norden, dieselbe, auf der wir auch an die Grenze gefahren sind. Die Kinder dösen auf der Rückbank vor sich hin, und ich fühle mich neben Herrn Bergen nicht sehr wohl, in diesem Schweigen, das uns trennt oder vielmehr verbindet. Die Straße ist lang und die Landschaft von einer unglaublichen Monotonie; abwechselnd Wälder, Wiesen und Felder, gerade erst dem Winter entronnen. Danach fahren wir am Meer entlang und an grauen Sandstränden vorbei, dann tauchen wir in den Verkehr eines Fischereihafens ein, mit schmalen Kais, auf denen dick eingemummte Spaziergänger unterwegs sind. Ein heftiger Wind schlägt uns ins Gesicht, als wir aus dem Wagen steigen, und ich beneide Frau Bergen darum, zu Hause geblieben zu sein. Mir fehlt die Energie, Touristin zu spielen, die Umgebung zu erkunden, mich von den Gerüchen, dem Licht, den kontrastreichen Farbtönen des Meers überraschen zu lassen, ich habe keine Lust, über die Hafenmole zu spazieren und das Geschrei der Möwen zu hören, das in allen Ländern dasselbe schrille Gekrächze ist, zu Fuß die paar Stufen des Leuchtturms hinaufzugehen, um zusammen mit den Kindern für ein Foto zu posieren, die Gesichter fast unter den Mützen verborgen. Mir ist nicht nach einem Lächeln, aber trotzdem lächle ich tapfer, drücke Thomas und Nina an mich, und wir drei stehen kerzengerade da und kneifen die Augen zusammen, weil uns der Wind ins Gesicht bläst, und warten, bis Herr Bergen sein Objektiv richtig eingestellt hat. Ich habe keine Lust zu atmen, lasse mir aber dennoch von der kalten Luft die Lungen füllen, lasse mich von dem eisigen Wind durchdringen, der aus Dänemark herüberweht, diesem Land, in dem wir heute noch anlegen werden. Nina gibt mir die Hand und lässt mich nicht mehr los, als wäre ich ihr Fixpunkt. Sie schaut mich an, sucht nach mir, wartet auf mich, fragt bei jedem Schritt nach meiner Meinung. Nina tut immer von allem ein bisschen zu viel. Ich spüre, dass sich dieser Tag in mein Gedächtnis einprägen wird. Ich muss ihn notgedrungen durchleben, ich muss schon wieder tun, was man von mir erwartet, auf das Schiff gehen, mich bei Herrn Bergen für den Fahrschein bedanken, das stürmische Meer ertragen, von dem mir kotzübel wird, in der Kälte des Oberdecks bleiben, ich muss sagen, wie schön und erstaunlich es hier ist, ich muss Begeisterung heucheln, so tun, als wäre ich überwältigt vom Anblick der Küste Dänemarks, als diese unvermittelt vor uns auftaucht; ich muss auch reden, unvermeidliche Vergleiche anstellen, von früheren Schiffsreisen erzählen (weil ich sonst wieder stumm geblieben wäre), eine Überfahrt nach Korsika erfinden, die nie stattgefunden hat, bei einem unglaublichen Sturm, Delphine, die neben dem Schiff herschwammen, ich muss meine Phantasie anstrengen, die Wirklichkeit neu gestalten, sie den Umständen anpassen, sie in die Fächer pressen, die mir zur Verfügung stehen, einfach nur, um zu existieren, um eine gewisse, wenn auch winzige
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