Das fremde Jahr (German Edition)
dieser Fähigkeit gekommen war: ein Geheimnis, das ich ergründen muss und zu dem ich noch keinen Schlüssel gefunden habe. Beim Aufstehen bin ich in einem merkwürdigen Schwebezustand, versuche beim Anziehen meinen Traum zu verlängern, denke an Nina, die wahrscheinlich schon in der Küche ist, und weiß, dass die Worte in dem Moment, da ich über die Schwelle meiner Zimmertür trete und die Treppe hochsteige, sachte versickern werden und meine erstaunliche Fähigkeit verschwinden wird. Ich weiß, dass ich wieder über die Realität stolpern und müde und erschöpft sein werde, bis ich vor Anstrengung Kopfschmerzen bekomme. Noch halb verschlafen lasse ich mich auf einen Küchenstuhl sinken und frage Nina, die im Schlafanzug dasteht, ob es hier auch einen Frühling gibt. Sie blickt mich kaum an, setzt ihre Puppe auf den Tisch, seufzt als Antwort und legt ihren Kopf auf die Unterarme, weil allein schon die Vorstellung, gleich zur Schule gehen zu müssen, sie müde macht. In meinem Traum war Frühling, es war mild und warm, das Licht war klarer, und draußen war alles in Bewegung.
Thomas Mann überrascht mich mit seinem Humor. Seine Romanfiguren schlagen niemals einen klagenden Ton an; obwohl der Tod durch sämtliche Stockwerke des Sanatoriums geistert, beschreibt Mann mit distanziertem Gleichmut, wie enttäuscht Hans Castorp ist, als er feststellt, dass ihm seine Zigarre nicht mehr wie früher schmeckt. Er macht sich über die, wie er sie nennt, Menschen vom »Verein Halbe Lunge« lustig, die man an ihrem pfeifenden Atem erkennt, als handle es sich um Kriegsversehrte. Und manchmal nimmt sein Roman fast burleske Züge an, obwohl das Drama kein Ende nimmt. Aber das Lesen fällt mir schwer, ich verstehe nicht alle Sätze und muss ständig im Wörterbuch nachschlagen. Also reime ich mir zusammen, was ich nicht verstehe, und bahne mir so meinen eigenen kleinen Weg, hin zu den unbekannten Wörtern und füge auf diese Weise die Bruchstücke der Geschichte zusammen, nehme das Schicksal der Personen selbst in die Hand und setze ihre Charakterbilder und ihre Handlungen neu zusammen. Aber im Sanatorium leben die Menschen wie im Exil, sind eines Teils ihrer selbst beraubt. Sie zeigen nur das, was sie zeigen wollen, und alle spielen dieses Spiel der Maskeraden und des falschen Scheins mit. Alle suchen sich, ohne sich je zu finden.
Ich lerne den Großvater der Kinder an dem Tag kennen, an dem wir ihn abholen, um ihn in ein Altersheim zu bringen. Ich finde es seltsam, dass sie mich mitnehmen, und frage mich, ob es dem alten Herrn überhaupt recht ist, dass eine Fremde an diesem für ihn besonderen Tag zugegen ist. Vielleicht bin ich ja nur hier, um diesen fügsamen, höflichen Mann, dessen Augen mir sofort gefallen, abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Er ist der Vater von Herrn Bergen, und seine Frau ist vermutlich schon gestorben, denn er lebt allein in dem düsteren Vorort-Mehrfamilienhaus. Der Mann hat einen kleinen Koffer gepackt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass man seine Wohnung mit so leichtem Gepäck für immer verlässt. Er spricht wenig, verhält sich ruhig, geht mit übertriebener Langsamkeit von einem Zimmer ins nächste. Er sorgt für die Kinder, holt Gläser und eine Flasche Mineralwasser aus dem noch an seinem Platz stehenden Küchenschrank. Aber das Mineralwasser ist abgestanden, vermutlich ist die Flasche schon seit längerem geöffnet, und die Kinder brüllen, sie hätten keinen Durst. »Wir sind nicht durstig.« Danach brüllt auch Herr Bergen, ob er die paar auf dem Wohnzimmertisch aufeinandergestapelten Kartons jetzt mitnehmen könne. Ich frage mich, warum alte Männer schwerhörig sind, auch meine beiden Großväter hören schlecht, was uns immer daran gehindert hat, uns richtig mit ihnen zu unterhalten. Manche Dinge muss man leise aussprechen, gewisse Sätze leiden darunter, wenn man sie wiederholen muss. Meine Mutter regt sich ständig über ihren Vater auf, der nicht in der Lage ist, auf Anhieb zu verstehen; meine Mutter, die normalerweise geduldig und ausgeglichen ist, verwandelt sich in eine unwirsche und intolerante Frau, sobald es um die Schwerhörigkeit ihres Vaters geht. Es ist unklar, was sie ihm wirklich zum Vorwurf macht: vielleicht, dass er ihr damals, als er noch nicht schwerhörig war, nicht zugehört hat? Dass er seiner Tochter nicht geholfen hat, als sie ihre Arbeit verlor? Dass er sie nicht unterstützte, als sie und mein Vater sich mit dem Wohnungskauf übernahmen,
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