Das fremde Jahr (German Edition)
mich, mit vollem Bauch und Herrn Bergens Worten im Ohr, auf einmal so lebendig fühle. Ja, ich glaube, das ist es: Ich fühle mich lebendig, als ich nun mit kleinen Schritten über diesen sandigen Weg gehe, der unter meinen Füßen nachgibt; die Sonne schiebt sich hinter ein paar Wolken, aber sie ist ganz nah, und ich spüre das Blut durch meine Adern pulsieren. Und einen Moment lang sage ich mir, dass alles gut ist, hier, am anderen Ende der Welt, auf dieser dänischen Halbinsel, zwischen Himmel und Meer, ich muss mich nur vom Leben der anderen tragen lassen, mich dorthin mitnehmen lassen, wohin sie gehen wollen, endlich kann ich mich ausruhen, Ninas Hand in meiner, ich muss nur einen Fuß vor den anderen setzen, es ist ganz einfach, und die Boote anschauen, die über das Wasser gleiten, mich vom Spiel der Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche einfangen lassen. Ich muss nur da sein, mich meiner deutschen Familie überlassen, muss nur mitmachen, mich führen lassen; ja, mich mitnehmen lassen, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen, ein Kind, das man auf den Arm nimmt, von einem Ort zum anderen trägt, das man füttert, ankleidet, mit dem man spielt und dem man kleine Geschenke macht. Ich werde wieder zum Kind, zur selben Zeit, wie ich die Welt der Erwachsenen betrete. Das ist sonderbar und unvereinbar, aber in dieser fast magischen Dimension, an diesem endlosen Meer, losgelöst von der Vergangenheit und von der Zukunft, bin ich plötzlich mit mir und der Welt im Reinen.
Als wir am späten Nachmittag wieder zum Hafen kommen, nachdem wir über Heideland und an Sümpfen vorbeigegangen sind und alle möglichen Vögel beobachtet haben, sind wir so müde, dass wir nur noch den Wunsch haben, aufs Schiff zu gehen und schlafen zu können. Aber der Wind ist zu stark, es fährt kein Schiff mehr nach Deutschland. Wir sitzen also auf dieser Halbinsel fest, und dieser unvorhergesehene Zwischenfall scheint Herrn Bergen in eine Art Panik zu versetzen. Mehrere Male fragt er beim Informationsschalter nach, für welche Uhrzeit die Abfahrt am nächsten Morgen geplant sei, doch wenn ich richtig verstanden habe, muss sich zuerst das Meer beruhigt haben. Herr Bergen steht mit hängenden Schultern in der Halle, zündet sich eine Zigarette an, dann eine zweite, ohne mir diesmal eine anzubieten, dreht sich um sich selbst, geht zum Ausgang, kommt wieder zu uns, atmet tief durch und sagt, er müsse telefonieren. Er geht zu den Telefonkabinen neben dem Ausgang, und wir warten, die Kinder und ich, was als Nächstes passiert. Aber es passiert nichts. Herr Bergen kommt mit abwesendem Blick zu uns zurück, und wir setzen uns auf die Plastikstühle an der Wand. Nina fragt, ob er mit Mama gesprochen habe, was Herr Bergen bejaht, natürlich habe er Mama Bescheid gesagt, die das Ganze eher lustig fände und uns eine gute Nacht wünsche. Thomas stellt Fragen, er hasst die Vorstellung, auf dieser Halbinsel gefangen zu sein. Nina scheint die Situation nichts auszumachen, und sie kuschelt sich noch enger an mich. Thomas gibt seinem Vater die Schuld, der sich aber nicht einmal die Mühe macht, die Vorwürfe zurückzuweisen. Ich verstehe nicht alles, aber der heftige Tonfall verrät mir, dass es Vorwürfe sind. Thomas, fast fünfzehn Jahre alt, hat sich vor seinem Vater aufgebaut, der zusammengesunken auf seinem Plastikstuhl sitzt, und nutzt anscheinend die Gelegenheit für eine Abrechnung. Ich weiß nicht, worum es wirklich geht, aber ich spüre, dass Herr Bergen kurz davor steht, die Geduld zu verlieren, er fängt an zu zittern, vor allem seine Unterlippe, und ich fürchte, dass diese Anspannung nichts Gutes verheißt. Ich bleibe ruhig und distanziert, als ich ungewollt Zeugin dieses Wortwechsels werde, der mich sprachlich überfordert, und dabei würde ich Herrn Bergen gern beistehen, denn er trägt nun wirklich keine Schuld an unserer misslichen Lage. Thomas steigert sich noch mehr hinein, er steht weiterhin vor seinem Vater, reizt ihn wie eine bösartige Wespe und wirft ihm noch mehr Worte an den Kopf, die ohne Antwort bleiben. Und Thomas lässt immer noch nicht locker, er sucht die Konfrontation, und bevor ich mitbekomme, was los ist, springt Herr Bergen in seiner etwas schlaffen Massigkeit auf und gibt Thomas eine schallende Ohrfeige, eine Ohrfeige, die alle in dieser Halle überrascht, die wie wir bekümmert über die abgesagte Überfahrt sind, Nina, die sich an mich schmiegt, Thomas und Herr Bergen selbst, der hin und her schwankt und nicht
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