Das fremde Jahr (German Edition)
weiß, ob er stehen bleiben oder sich wieder setzen soll. Ob er etwas sagen oder schweigen, bleiben oder gehen soll. Thomas reagiert als Erster, er rennt durch die Halle zur Tür, reißt sie mit einem Ruck auf und verschwindet im zu Ende gehenden Tag. Erst da kommt wieder Leben in Herrn Bergen, der seinem Sohn nachläuft, während Nina und ich beklommen zurückbleiben.
Danach essen wir im Restaurant panierten Fisch mit Kartoffeln und sitzen alle vier neben dem wärmenden Kaminfeuer an einen Holztisch. Alle Gespräche im Raum drehen sich nur um das aufgewühlte Meer, die unsichere Wettervorhersage, die Fischerboote, die nicht auslaufen können, die privaten Fährschiffe. Überall sind es dieselben Begriffe, die ich schließlich wiedererkenne, Wörter, die ich in der Schule nie gelernt habe, bei denen es um die Gewalt der Naturelemente geht, um Unsicherheit und Angst vor dem nächsten Tag. Aber auch um Aufregung darüber, dass man sich in dieser unvorhergesehenen Lage befindet. Alle reden, tauschen sich aus, auch mit den Leuten vom Nachbartisch, und je mehr das Bier ihre Zungen lockert, desto lauter werden sie, man hört sogar das eine oder andere Lachen und freudige Ausrufe. Die Kinder wechseln die Tische und setzen sich zu anderen Kindern, deren Eltern Kartenspiele organisieren, der Gastwirt legt im Kamin Holz nach, und die Nacht schreitet fort, noch unbekannt und voller Wärme, die Nacht, die von wer weiß wo hereinbricht, wie eine Zugabe an Menschlichkeit, ein kleines Geschenk des Schicksals. Mir wird klar, dass das Restaurant bis zum nächsten Morgen geöffnet bleiben wird, vermutlich ist das in solchen Fällen üblich. Eine Frau bringt Decken. Einige Leute schlafen schließlich ein, den Kopf auf den Tisch gebettet, die Kinder legen sich auf die Bänke, und die Kartenspieler gehen zu stärkeren Getränken über. Nina legt ihren Kopf an meine Schulter und schläft ein. Thomas bleibt mit ausgestreckten Beinen und starrem Blick zum Fenster sitzen, Herr Bergen zögert. Schließlich nimmt er seine Tochter in die Arme, macht es sich in einem Stuhl am Feuer bequem und verzichtet darauf, selbst zu schlafen. Nun bin ich also bis zum Morgen allein, auf einer Seite die Bergens, auf der anderen ich, im Taumel dieser stürmischen Nacht, so weit weg von zu Hause, und ich denke an Simon, über tausend Kilometer von mir entfernt, in seiner ganzen Einsamkeit. Ich denke an den Brief, den ich ihm schreiben werde und den ich im Geiste bereits formuliere: Ich bilde Sätze, möchte kein Detail dieses Tages vergessen. Ich rufe mir noch einmal die Eindrücke und Empfindungen ins Gedächtnis, die neu für mich sind und teilweise widersprüchlich, das plötzliche Gefühl der Gelassenheit, mein Staunen darüber, wie lebendig ich mich gefühlt habe, obwohl ich nun vor Müdigkeit an meinen Stuhl gefesselt bin und allmählich einschlafe, in der Stille dieses kleinen Restaurants, das dem Heulen des Sturms trotzt.
Die Nacht nach unserer Rückfahrt mit dem Schiff ist für mich der Beginn einer neuen Phase. Zum ersten Mal träume ich auf Deutsch. Als ich am Morgen aufwache, bin ich voller Wortketten und Klänge und habe das Gefühl, dass ich nicht mehr auf dieselbe Weise denke. In meinem Traum habe ich ausgezeichnet und fehlerlos geredet, ich erinnere mich noch an Sätze, die ich fähig war zu bilden: treffend und virtuos, als wäre mir für die Dauer einer Nacht ein sechster Sinn verliehen worden, ein extrem klarer Verstand, der mein Gehirn zur Höchstform auflaufen ließ. Ich konnte Unterhaltungen führen, die weder verkrampft noch zögerlich waren, sondern leicht, getragen von einer bisher nie gekannten Präsenz – meiner Präsenz –, als besäße ich plötzlich ein ewiges Gedächtnis, ein intuitives Wissen, das durch meine Adern floss, und ich verspürte auch Freude, die Freude derer, die etwas besitzen und sich an ihrer Macht ergötzen. Alles war einfach, leicht, eindeutig, und die Sprache wie eine Süßigkeit, ein Bonbon, das einem mit einem kräftigen, belebenden Geschmack auf der Zunge schmilzt. Beim Sprechen schwelgte ich in jeder Silbe, und das Verwirrendste war, dass ich im Traum wusste, dass ich absolut fehlerfrei sprach, meine Sätze korrekt waren, die Wendungen einwandfrei, die Überleitungen perfekt. Und gleichzeitig war mir bewusst, dass meine Sprachkenntnisse es mir nach den Gesetzen der Logik niemals ermöglicht hätten, so zu sprechen, und das beunruhigte mich. Ich habe mich auch gefragt, wie ich so plötzlich zu
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