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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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lebhaft, fleißig, taktvoll und intelligent, ein Junge mit einem erstaunlich festen Charakter, der sich aus dem Staub macht, wenn es ihm zu viel wird, und die Flucht ergreift. Überlebensinstinkt, das hat er. Zum Glück ist Thomas da. Er ist als Einziger immer in Bewegung, scheint ein Ziel zu haben, weist Nina zurecht, wenn sie allzu unerträglich wird. Thomas ist mein Vorbild, auch wenn er jünger ist, er stürmt durch das Haus, lässt sein Mofa anspringen und gibt Gas. Thomas lernt Gitarre spielen, und aus dem Wohnzimmer höre ich manchmal Akkorde, die ihm Probleme machen, die aufeinanderfolgenden Noten, den Auftakt zu einem Lied, ich höre seine Hartnäckigkeit. Thomas ist nicht besonders redselig, aber er ist der Einzige, den ich verstehe, der Einzige, der spricht, ohne zu vergessen, dass ich auch da bin. Er hat, glaube ich, als Einziger meine missliche Lage erkannt, er weiß, wie schwer es mir fällt, mich einzugewöhnen. Mit einem Blick kann er mich zum Lächeln bringen, unabsichtlich lenkt er meine Aufmerksamkeit auf sich und lässt mich ein bisschen von seiner Welt erahnen. Als er erfuhr, dass ich auch Gitarre spiele, lud er mich zu sich ins Zimmer ein, und das war eine große Ehre. Ich durfte mich sogar auf sein Bett setzen und habe ihm Lieder vorgespielt, die er kannte, wir haben es genossen, zusammen Melodien zu summen oder Wörter zu trällern, die wir vor langer Zeit mal gelernt hatten; wir haben auf Englisch gesungen und gelacht, weil unsere Stimmen hin und wieder entgleisten, unsere Aussprache nicht immer korrekt war. Seit diesem Tag gehe ich oft in Thomas’ Zimmer, wenn ich ein bisschen Zeit habe, und dann sagen wir nichts anderes als Zeilen eines Songs oder Anweisungen, wo und wie die Finger am Gitarrenhals zu liegen haben. Thomas schaut sich die Stellung meiner Hände an und versucht, den Akkord nachzuspielen, und wenn es richtig klingt, sind wir beide mächtig stolz, feiern diesen kleinen Triumph mit einem Freudenschrei, auf Französisch, auf Deutsch, auf Englisch. Danach spielen wir weiter und werden etwas lauter.
     
    In seinem letzten Brief hat Simon nicht erwähnt, wie es zu Hause läuft. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Situation zwischen meiner Mutter und meinem Vater entwickelt. Ich weiß nicht, ob mein Vater immer noch auf dem Sprung oder gar schon ausgezogen ist – oder noch abwartet. Ich weiß nicht, ob meine Mutter sich beruhigt hat, ob sie immer noch auf ihren unterschwelligen Vorwürfen herumreitet, ihren schwerwiegenden Anklagen. Simon erzählt von nichts anderem als einem Mädchen, das er kennengelernt hat. Drei Seiten lang Edith – was sie sagt, was sie denkt, was sie will, wie sie ist, oder vielmehr, wie er glaubt, dass sie ist. Edith und ihre Haare, Edith und ihre Stiefel, Edith und ihr Humor, Edith und ihr Tanzkurs. Und so ist sein Brief nur ein langer, belangloser Monolog, es gibt nichts mehr außer diesem Mädchen, das seinen Horizont zu vernebeln scheint. Ich erkenne Simon nicht wieder, der normalerweise allem gegenüber so aufgeschlossen ist; jetzt antwortet er kaum auf die Fragen, die ich ihm gestellt habe, reagiert nicht auf meinen Bericht über die Fahrt nach Dänemark, die ich ihm in sämtlichen Einzelheiten geschildert habe und die in meinen Augen nun wirklich ein Ereignis war. Nein, kein Kommentar, als wäre ihm meine Reise ans Ende der Welt völlig gleichgültig. Er hat mir keine Musik geschickt, erwähnt sie nicht einmal mehr. Er fragt nicht, wie ich die Kassette von Iggy Pop fand. Ich fürchte das Schlimmste für Simon. Ich sehe es förmlich vor mir: Simon, ganz im Banne dieses Mädchens, nickt begeistert bei jedem ihrer Worte, bei jeder ihrer Ideen; Simon, nur noch der Schatten seiner selbst, von Kopf bis Fuß zitternd, wartet nur auf einen Ruf, einen Blick. Ich kann mich beim besten Willen nicht für Simon freuen, dabei sollte ich das tun, ich sollte aufgeregt und neugierig nach weiteren Informationen fragen, aber ich bin wie vor den Kopf gestoßen, sitze im Untergeschoss auf meinem Bett und lasse mich, noch bevor ich den Brief zu Ende gelesen habe, seitlich auf das Kopfkissen fallen und habe das Gefühl, als würde die Erde mich zu ihrem Mittelpunkt ziehen, als wäre die Anziehungskraft stärker als sonst; ich sinke in die Matratze, immer tiefer, und verstehe nicht, warum ich weine. Ich habe das Gefühl, dass Simon mich verlässt, mich im Stich lässt in diesem kalten, nicht enden wollenden Winter, weit weg von zu Hause, von ihm und auch bereits von meiner

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