Das fremde Jahr (German Edition)
Schränke auszuräumen, damit die Möbel abtransportiert werden können. Wir stapeln das Geschirr in die Kartons, die Wäsche, Papiere und ein paar Bücher. Wir versuchen nicht wirklich, die Sachen zu sortieren, sondern wickeln nur die zerbrechlichen Objekte ein und stapeln alles so eng wie möglich zusammen, was weggebracht werden soll. Ich gehe behutsam mit den Gegenständen um, weil ich an den Großvater denke, der gerade erst von hier weggegangen ist, und ich muss auch an meine Großeltern denken, die eines Tages vielleicht auch in ein Altersheim ziehen müssen, dass meine Eltern sie dann begleiten werden und man sie von ihren Sachen trennen wird, dass sie dann nichts mehr brauchen werden. Mechanisch leere ich, was zu leeren ist, räume um, räume auf und sehe wieder dieses Köfferchen vor mir, ein ganzes Leben reduziert auf einen kleinen Koffer, der Verzicht auf fast alles, wenn das Ende naht. Ich staple die Bücher aufeinander, sage mir, dass ich vielleicht einen Roman von Thomas Mann finde, aber ich kenne die Titel und die Autoren nicht, bis ich plötzlich ein dickes Buch in den Händen halte, und ein zweites, die wie eine Bombe in mein Bewusstsein einschlagen, diese zwei Bände
Mein Kampf
von Adolf Hitler. Ich weiß nicht, ob ich sie Frau Bergen zeigen soll oder ob ich sie zur Seite lege und so tue, als wäre nichts. Sie steht vor dem Flurschrank auf einem Schemel, und ich stehe wie versteinert mit diesen beiden belastenden Bänden da. Sie sind zu dick, als dass ich sie in meine Tasche stecken könnte. Ich lege sie in den Karton zu den anderen Büchern und achte darauf, dass sie möglichst weit oben liegen, und dann, nachdem ich den Karton zugemacht habe, hinterlasse ich mit Bleistift ein kleines Zeichen darauf und denke für den Rest des Tages an nichts anderes mehr.
Ich würde meiner Mutter gern von meiner Entdeckung erzählen, als sie am nächsten Tag anruft, aber vermutlich ist ihr der Zweite Weltkrieg ziemlich egal, denn sie war noch zu klein, um sich an jene Jahre zu erinnern. Ich würde ihr gerne erzählen, wie aufregend ich es finde, befürchte aber, dass sie das Ereignis wie üblich bagatellisiert oder womöglich sogar denkt, ich hätte die ganze Geschichte nur erfunden, um mich interessant zu machen. Ehrlich gesagt, habe ich auch Angst, den Titel laut auszusprechen, ich schäme mich, »Mein Kampf« zu sagen und womöglich gehört zu werden. Ich weiß nicht, was dieses Buch fast vierzig Jahre nach Kriegsende für die Deutschen bedeutet. Ist es frei verkäuflich, als Beweis für den Wahnsinn dieses Mannes? Ist es in den meisten Haushalten zu finden, die diese Epoche durchlebt haben? Gilt es als eines der letzten Tabus oder im Gegenteil als Werk, das die jungen Generationen wieder lesen sollen? Ich frage mich auch, ob es bedeutet, dass jemand Nazi war, wenn er noch heute
Mein Kampf
im Regal stehen hat. Ich nehme mir vor, Thomas danach zu fragen, und warte nur auf den richtigen Augenblick. Ich sage ihm allerdings nicht, dass ich das Buch bei seinem Großvater gefunden habe, ich frage ihn nur, ob er es selbst gelesen hat. Thomas antwortet nein, er hätte es nicht gelesen, es würde ihn auch nicht interessieren und außerdem dürfe das Buch gar nicht mehr verkauft werden. Heimlich gehe ich die beiden Bände holen, die unten in der Garage auf ihre letzte Bestimmung warten. Ich wickle sie in ein Kleidungsstück ein und lege sie in meinem Zimmer zuunterst in den Schrank. Aus Angst, jemand könnte sie dort finden, verstecke ich sie dann aber in meinem Koffer, so, als täte ich etwas Verbotenes, als würde ich allein durch den Besitz dieser Bücher ein Verbrechen begehen.
Ich schäle Kartoffeln mit Frau Bergen, und wir amüsieren uns darüber, wie Naphta die Schalen, die wir ihm zuwerfen, in sein Körbchen trägt. Was ich an den Bergens mag, ist ihre Art, sich über eine Kleinigkeit zu freuen, sich mit dem, was kommt, zufriedenzugeben, ohne das Schicksal herausfordern zu wollen. Ich mag es, wie sie im Heute leben, ohne an das Morgen zu denken. Und ganz allmählich entspanne ich mich, ich stürze mich nicht mehr wie in den ersten Wochen auf die schmutzige Wäsche, die sich im Wäschekorb ansammelt, auf die Bügelwäsche, die auf mich wartet, auf die Sachen und Kleidungsstücke, oder auf die Sachen, die im Bad und in den Kinderzimmern herumliegen. Ich gewöhne mir einen neuen Rhythmus an, eine neue Beziehung zum Haushalt, verfalle nicht mehr ständig in den blinden Aktionismus, mit dem ich vor mir
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