Das fremde Jahr (German Edition)
meine Gesellschaft; ist es nicht merkwürdig, dass sie mich begleitet – das Au-pair-Mädchen, das ihre Tochter vom Schulbus abholt? Da stimmt etwas nicht. Ich werde zur Erwachsenen und sie zum Kind; trotz meiner Hindernisse, der Sprache, des Fremdseins und meiner Jugend, scheine ich die Zügel in der Hand zu halten. Gleich werde ich auf zwei Menschen aufpassen müssen, eine vierzigjährige Frau und ein kleines Mädchen, das aus dem Schulbus steigt und sichtlich überrascht ist, dass wir zu zweit gekommen sind, um sie abzuholen.
Um Simon zu imponieren, fange ich an,
Mein Kampf
zu lesen. Ich glaube, dass ich meinen Bruder beeindrucken kann, wenn ich dieses Buch aufschlage, und ich hoffe, dass er auf diese Weise zu mir zurückfinden wird, wieder Interesse an mir hat, weil er merkt, dass ich gerade etwas Außergewöhnliches erlebe. Aber ich glaube auch, dass ich mich selbst beeindrucken möchte, indem ich etwas Heimliches tue, der Versuchung einer ungesunden Neugier erliege. So empfinde ich es jedenfalls. Ich will mich selbst davon überzeugen, dass ich etwas Besonderes erlebe, ich will mir beweisen, dass ich eine Abenteurerin bin. Als überträte ich ein Verbot, als setzte ich meine Füße auf ein Territorium, aus dem man nicht zurückkehrt. Also sitze ich abends auf meinem Bett und blättere die Seiten um, ohne die Musik leiser zu stellen, und auf meinen wenigen Quadratmetern vermischen sich die deutschen Wörter von Adolf Hitler mit den englischen Strophen meiner Lieblings-Rockbands, und so überlagern sich gegensätzliche Gefühle: auf der einen Seite mit mehr oder weniger Harmonie gesungene tröstliche Worte, und auf der anderen Seite das Schlimmste, was man mit Worten anrichten kann.
Ich schaue immer wieder auf die Uhr, um den Bus nicht zu verpassen. Es bleibt mir noch fast eine Stunde. Zeit genug, um Ninas Zimmer fertig aufzuräumen. Wir tun es gemeinsam, ich schlage Nina vor, mir den Namen jedes Gegenstands zu nennen, wie ein Spiel, denn auf diese Weise lerne ich dazu, und sie vergisst, dass sie beim Aufräumen immer kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht. Wir hocken auf dem Teppich und bilden Haufen: auf der einen Seite die kleinen Figuren und Puppen, und auf der anderen die Puzzleteile und Bausteine. Auf einen dritten Haufen kommen Plastik- und Holzteile, die nicht mehr benutzt werden. Als Erstes räumen wir die Kleidungsstücke weg, die schmutzige Wäsche kommt in den Wäschekorb, ich lege die diversen Pullis auf dem Bett zusammen und sortiere die Hosen. Ich sage zu Nina, sie solle das Kopfkissen ausschütteln und dann in die Mitte einen Knick hineinschlagen, worüber sie lachen muss, und als die Federn richtig verteilt sind, schütteln wir das Federbett am Fenster kräftig aus. Ich schlage Nina vor, die Stofftiere auf dem Bett zu einer Art Arche Noah anzuordnen, wie für eine Theateraufführung, damit die Tiere nicht mehr im ganzen Zimmer herumfliegen. Ich lasse das Fenster offen, damit frische Luft hereinkommt, und sehe Staubpartikel im Lichtstrahl tanzen. Ich muss aufpassen, dass ich in der Zeit bleibe, möchte Nina aber auch nicht zu größerer Eile antreiben, denn ich spüre, dass ihre Geduld allmählich an ihre Grenzen stößt. Mit meiner eigenen Geduld ist es auch nicht mehr weit her, aber ich lasse Nina machen, ich weiß, dass ich in wenigen Minuten aus dem Haus gehen werde.
Als ich an Frau Bergens Schlafzimmer vorbeikomme, zieht sie mich mit geheimnisvoller Miene hinein. Und noch bevor ich ein Wort über den Bus und meinen geplanten Besuch in der Stadtbücherei sagen kann, öffnet sie die Tür ihres Kleiderschranks und sagt, ich dürfe mir alle Kleider aussuchen, die mir gefallen. Ich versuche noch einmal, ihr zu erklären, dass ich schon spät dran bin, aber da sagt sie, sie werde mich mit dem Auto hinfahren, sie habe ohnehin ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen. Ich spüre, dass ich innerlich zu zittern beginne und kurz vor einem Schreikrampf stehe, aber ich will nicht die Beherrschung verlieren, hier, in Frau Bergens Zimmer, dem Elternschlafzimmer, das mich an das Zimmer meiner eigenen Eltern erinnert, in dem sich mein Vater und meine Mutter nach Leos Tod Nacht für Nacht gestritten haben. Frau Bergen merkt nichts von meiner Verwirrung, sie beharrt auf ihrem Angebot, präsentiert mir bereits das erste Kleid auf einem Kleiderbügel, sie trage es nicht mehr wegen der Farbe, es stehe mir viel besser, weil ich ein dunkler Typ sei, dieses Kleid sei ihr vor einiger Zeit geschenkt
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