Das fremde Jahr (German Edition)
Kindheit. Ich ärgere mich über meine lächerliche Reaktion, ich bin eifersüchtig auf diese Unbekannte, die nichts von uns weiß, weder von Simon noch von unserer Geschichte. Ich bin sauer auf dieses Mädchen, das mir meinen Bruder gerade jetzt wegnimmt, wo ich ihn am dringendsten brauche. Wer soll von nun an Zeuge meiner Existenz sein, wer wird wissen, dass ich mit Mächten ringe, denen ich nicht gewachsen bin? Wem soll ich erzählen, was ich Tag für Tag hier erlebe? Wer kann mir sagen, wie es dazu gekommen ist? Ich habe den Eindruck, dass Simon mich loswerden will, dass es ihm nunmehr egal ist, ob es richtig von mir war wegzugehen. Für ihn jedenfalls, das steht fest, war es richtig zu bleiben.
Eines Morgens treten wir vor die Tür, Nina und ich, und irgendetwas ist anders. Es ist ganz plötzlich gekommen, das Gezwitscher der Vögel, als wären sie über Nacht aufgewacht. Es riecht nach Frühling, der Schnee läuft nur noch in kleinen Rinnsalen den Weg hinunter, etwas liegt in der Luft und spiegelt sich in der Glastür, als ich sie hinter mir schließe. Ninas Stimme vielleicht oder die Farbe ihrer Haare, die sich plötzlich von der dunklen Tiefe der Tannen abhebt. Ich weiß nicht, warum, aber heute ist alles anders. Die Hälfte meiner Zeit hier habe ich hinter mir, und ich erinnere mich an den ersten Morgen im Schnee und in der Dunkelheit, als Nina und ich noch zwei Unbekannte waren, an die Angst, nicht rechtzeitig aufzuwachen, an die Müdigkeit von der Reise, die abgrundtiefe Traurigkeit, die mir die Brust zuschnürte, das Gefühl, alles sei egal und ich würde mich im Dunkel verirren. Jetzt, drei Monate später, weiß ich nicht, ob ich Fortschritte gemacht habe. Ich weiß immer noch nicht, was ich hier suche, ich weiß nicht, ob ich es gefunden habe, aber ich gehe neben einem kleinen Mädchen her, das mir die Hand gibt und dem ich versprechen muss, da zu sein, wenn es zurückkommt. Noch halb verschlafen frage ich Nina, was sie später werden möchte, wenn sie groß ist, und sie antwortet, sie würde gern Französin werden. Ich frage mich, wozu es gut ist, mit Menschen zusammenzuleben, die man wieder verlassen muss, mir Landschaften einzuprägen, die ich nie mehr sehen werde, eine Sprache zu lernen, die ich vermutlich nie mehr sprechen werde. Und da, an diesem Morgen, der so anders ist, an diesem Morgen, an dem die Vögel endlich beschlossen haben zu singen, fasse ich einen Entschluss und gebe mir selbst ein Versprechen, weil niemand sonst da ist. Nachdem Nina in den Schulbus gestiegen ist, ich dem Fahrer ein Zeichen gegeben habe und er weiterfährt, nehme ich mir vor, nach meiner Rückkehr weiterhin Deutsch zu sprechen, kein einziges der gelernten Worte zu vergessen, nichts von dem zu verlieren, was diese Sprache mich empfinden ließ, was ich seit drei Monaten empfinde, nein, ich will keines der Gefühle, keinen der Klänge und keine der Redewendungen vergessen, die mich in dieser so besonderen Zeit begleitet haben, der Zeit meines freiwilligen Exils, vielleicht um den Verlust noch stärker zu spüren; ich wollte mich selbst verlieren, mich häuten und gründlich erforschen; ich verspreche mir, weiterhin auf Deutsch zu träumen, überhaupt weiterhin zu träumen, wäre schon mal nicht schlecht, sage ich mir auf dem Rückweg, während mich die Sonne bescheint, rot und voll, und Wind aufkommt; und auch wenn Simon mein Versprechen egal ist, weil er gerade mit anderen Dingen beschäftigt ist, so weiß ich doch, dass ich es halten werde, dass ich die deutsche Sprache für den Rest meiner Tage brauchen werde. Ich öffne die Tür, sehe Thomas, der gerade eine Tasse Tee trinkt, und rufe ihm zu, dass es endlich soweit ist: »Es ist Frühling!«, und Thomas zieht eine Augenbraue hoch, erstaunt über meine Aufregung am frühen Morgen. Er gibt keinen Kommentar dazu ab, sagt nur, dass er fast kein Benzin mehr im Mofa hat und hofft, dass es noch bis zur Schule reicht. Als er an mir vorbeigeht, gibt er mir zum ersten Mal einen Kuss auf die Wange und setzt seinen Helm auf. Ich bleibe still stehen, für eine Reaktion wäre es sowieso schon zu spät, Thomas hat die Tür bereits hinter sich zugemacht. Ich schaue ihm nach und sage mir noch einmal, dass ich weiterhin Deutsch sprechen werde.
Frau Bergen geht mit mir zur Bushaltestelle. Sie sagt, das Laufen täte ihr gut. Davor hat sie sich den ganzen Vormittag im Kreis gedreht und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Sie geht mit Herrn Bergen auf die Außentreppe,
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