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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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während er uns drei Kindern Geld gab, größere Summen, die wir in den Augen unserer Mutter für irgendwelchen Blödsinn ausgaben. Meine Mutter hat immer gemeint, dass die Schwerhörigkeit ihrem Vater eigentlich ganz gelegen kam, dass er nur hörte, was er hören wollte, dass sie ihm als Vorwand diente, Unangenehmem auszuweichen und in seiner wie durch Watte gedämpften Welt verharren zu können. Meine Mutter ist sich nicht einmal sicher, ob ihr Vater gehört hat, dass Leo gestorben ist, hat sie einmal gesagt, nichts hätte ihr gezeigt, dass die Nachricht bis zu ihm durchgedrungen war. Denn er hat nicht so reagiert, wie sie es erwartet hatte, er hatte nichts zu sagen gewusst, sondern mit der Kippe im Mundwinkel weiter seine Tomaten gegossen und sich erst einige Monate später nach dem Mofa erkundigt. Aber zumindest hat er irgendwann gesagt, er hätte Leo besser kein Geld fürs Benzin geben sollen. Ja, er hätte ihm kein Geld geben sollen, fand auch meine Mutter, er hätte sich um seinen eigenen Kram kümmern sollen, der Alte, wir hatten ihn schließlich nicht darum gebeten, war ihr in einem Moment der Verzweiflung herausgerutscht; so hatte sie noch nie mit ihrem Vater gesprochen, aber sie ist sich auch nicht sicher, ob er es überhaupt verstanden hat, sie hofft, dass er diesmal wirklich taub war.
     
    Frau Bergen fragt mich, ob ich mit dem Großvater und den anderen ins Altersheim fahren möchte oder lieber mit ihr in der Wohnung bleibe und Sachen aussortiere. Ich bin nicht schwerhörig, dennoch bitte ich sie, es zu wiederholen. Sie sagt »bei mir bleiben« mit solchem Nachdruck, dass ich es als Aufforderung deute, auch wenn ich nicht genau weiß, was wir machen werden. Die Kinder fahren mit dem Großvater, der mir lange die Hand drückt, als würde ich zur Familie gehören. Es scheint ihm zu gefallen, dass ich Französin bin, was er erst auf der Türschwelle merkt, er hält einen Moment inne und macht einen kleinen Kommentar. Zu meiner großen Überraschung ist es Französisch, ich verstehe ihn nicht sofort, denn er pfeift die Silben regelrecht, und sein abgehackter Atem lässt ihn keinen flüssigen Satz sagen. Er nimmt meine Hand, gibt mir einen Handkuss und sagt mit einem breiten, germanischen Akzent: »Mes hommages, mademoiselle« – Es ist mir eine Ehre, mein Fräulein, als wäre er ein Herzog und ich eine Prinzessin. Auf der Türschwelle dieser heruntergekommenen Wohnung, die er für immer verlässt, verbeugt er sich vor einer Fremden, einer jungen Ausländerin, die er vermutlich nie mehr wiedersehen wird, und schenkt ihr einen Augenblick echten Gefühls, eine wirkliche Aufmerksamkeit, obwohl die Kinder schon den Aufzug gerufen haben, der quietschend ankommt, während Herr Bergen, von dieser Szene etwas peinlich berührt, neben uns wartet. Der Großvater steht vor mir, mit vorbildlicher Würde, und sieht mich an, wie mich noch niemand hier angesehen hat, er betrachtet mich voller Respekt, aber auch mit einer Art Genuss, als wäre ich eine Erscheinung, die ein vergrabenes Begehren in ihm wachruft. Ich sage nichts, stehe nur reglos unter der Tür, mit geschlossenen Lippen und gesenktem Blick, und bedauere, dass meine Reaktion so erbärmlich ist, meine Unsicherheit so offensichtlich.
     
    Frau Bergen erzählt mir später, als wir die Teller aus dem Büfett nehmen, dass der Großvater während des Krieges in Paris war. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht ganz, was er dort genau gemacht hat, ob er als Besatzer in der Stadt war, als einfacher Soldat oder als Offizier. Ich muss mich mit den Wörtern begnügen, die mir bekannt sind, als Frau Bergen »Paris« und »während des Krieges« sagt, und das genügt schon, damit ich bedauere, dass der Großvater so schnell verschwunden ist. Danach packen wir Sachen in Umzugskartons. Aber nach der Begegnung mit dem Großvater sind die Gegenstände, die ich ausräume und einpacke, nicht mehr ganz neutral. Ich schenke ihnen mehr Aufmerksamkeit, als trügen sie eine Geschichte in sich, die mich irgendwie betrifft. Ich frage Frau Bergen, wann die Großmutter gestorben ist. Es hätte nie eine Großmutter gegeben, meine ich zu verstehen. Es gab wohl eine Frau, die eine Zeitlang hier gewohnt hat, »eine sehr nette Frau«, die aber nicht Herrn Bergens Mutter war. Daraus schließe ich, dass Herr Bergen keine Mutter hat, oder aber sie sehr früh verloren hat. Vielleicht hat er sie auch gar nicht gekannt, oder aber ich habe wieder einmal nichts kapiert.
    Unsere Aufgabe ist es, alle

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