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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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selbst geflohen bin, sehe die Arbeit nicht mehr als einzigen Wertmaßstab, nein, es kommt sogar vor, dass ich von einem Stockwerk ins andere schlendere, ohne unbedingt die Betten machen zu müssen, dass ich fernsehe und dabei die Füße auf den Couchtisch lege oder die Kaffeetasse nicht mehr gleich wegräume, sobald ich sie ausgetrunken habe. Es kommt vor, dass ich gar nichts mache, zusammen mit Frau Bergen, die ebenfalls nichts macht, und ich nicht weiß, ob sie arbeiten gehen muss oder nicht, doch ich hoffe nicht mehr, dass sie bald das Haus verlässt. Ich lasse mich von einer manchmal belastenden, trägen Gleichgültigkeit erfassen und versuche nicht mehr, dagegen anzukämpfen. Anfangs hat mich Frau Bergen oft ermahnt, das Tempo ein bisschen zu drosseln, mich hinzusetzen und zu beobachten, wie es vor dem Fenster schneit, einfach so, während ich innerlich verzehrt wurde von der Angst vor der Leere, vom Dämon der Zeit, die nicht vergehen will, vor der Tatsache, dass Leo nicht mehr da ist – ja, vielleicht war es vor allem das, was ich ausfüllen musste, diese Leere tief in meinem Inneren, die mich manchmal in sich aufsaugte, oder eher ein Loch war, das alles andere verdrängte. In solchen Fällen goss ich die Pflanzen, sammelte die Hundehaare vom Teppichboden, wischte die Zahnpastaspuren im Waschbecken weg, scheuerte die Bratpfannen. Aber ich begriff bald, dass es kein Mensch von mir erwartete. Mein Eifer und meine Dienstfertigkeit waren in dieser ungewöhnlichen Familie nicht gefragt. Ich wollte mustergültig, perfekt und immer verfügbar sein, stets bereit zu arbeiten, mich nützlich zu machen, trotz des Gefühls, dass ich mich immer mehr von mir selbst entfernte. Lieber schrubbte ich den Herd oder ging mit dem Hund spazieren, als mich meiner inneren Leere zu stellen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was mir lieber war: mir näher zu kommen und dabei zu riskieren, mich wirklich zu finden, meiner Einsamkeit ins Gesicht zu blicken, oder lieber eine Kopie meiner Selbst zu sein, ein braver Soldat, der nur auf Befehle wartet, unterwürfig und wachsam ist, jemand, den man benutzt, den man aussaugt und dann vergisst.
     
    Die Stadt ist weit weg, mein Vorhaben, Thomas Mann zu lesen und zu verstehen, versandet, obwohl ich im Leben dieses Schriftstellers eine Kraft erahne, die mir Sicherheit gibt und die mich aufrecht hält. Ich würde gern begreifen, wie er zu dem Entschluss kam, nicht mehr in seinem Heimatland leben zu wollen, und das Exil vorzog, vor allem auch, wieso er nach dem Krieg nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollte, obwohl damals sogar die Rede davon war, ihn für das Bundespräsidentenamt vorzuschlagen. Ich frage mich, wie man für immer fern seines Heimatlandes, immer als Fremder im Ausland leben kann. Es ist ja keine Kleinigkeit, wenn man seine Nationalität einfach so abstreift, nie mehr nach Hause zurückkehrt. Ich traue mich nicht, die Bergens zu fragen, ob ich öfter in die Stadtbücherei gehen kann. Abends in meinem Zimmer höre ich am liebsten die Kassetten, die Simon mir geschickt hat, um auf diese Weise für eine Weile der deutschen Sprache zu entfliehen, die ich als sehr anstrengend empfinde, und mir fehlt die nötige Disziplin, um mein Vorhaben zu Ende zu führen, ich kann mich der Art nicht entziehen, wie mich die gesamte Familie auffrisst, der störenden Anwesenheit von Frau Bergen, deren Unstetigkeit und Apathie ich nicht verstehe, bis hin zur leichten Verrücktheit Ninas, deren plötzliche Launen und rätselhafte Heftigkeit mich immer wieder überraschen; ich fühle mich ohnmächtig angesichts Herrn Bergens Unbeholfenheit, seines Bestrebens, es allen recht machen zu wollen, seines fehlenden Fingerspitzengefühls und der Verlorenheit, die aus seinen Blicken sickert. Ich lasse mich verschlingen von der paradoxen Macht der Bergens; ihre Energielosigkeit, ihre mangelnde Disziplin absorbiert und lähmt mich. All das schwächt mich, und das passt eigentlich gar nicht zu mir, ich lasse mich von den anderen überwältigen, von ihrer dickhäutigen Existenz, ihrer alles durchdringenden Verschwommenheit, dieser schlaffen Erschöpfung. Ich weiß nicht, wer diese Familie wirklich ist, was von mir erwartet wird, oder besser gesagt: Ich bekomme allmählich eine vage Vorstellung davon. Ich versuche herauszufinden, warum meine Anwesenheit notwendig ist. Ein paar Anhaltspunkte habe ich. Aber ich hoffe, dass ich mich täusche.
     
    Der Einzige, den ich als verlässlich empfinde, ist Thomas, er ist

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