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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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küsst ihn, gegen das Auto gelehnt, wie in einem Film der fünfziger Jahre, dann fährt er los, und sie bleibt einen Augenblick lang reglos stehen und schaut dem VW -Bus nach. Frau Bergen kommt ins Haus zurück und zieht ihren Bademantel enger zusammen. Sie schaut auf die Küchenuhr, schlägt vor, dass wir zusammen Tee trinken, und lässt sich in einen der Sessel fallen. Doch ich bleibe nicht im Wohnzimmer, ich gehe nach unten und schalte eine Waschmaschine ein, ich brauche jetzt erst mal Luft, Raum und Bewegung. Als es Zeit ist, geht Frau Bergen nach oben, um sich anzukleiden, dann zieht sie umständlich ihren Mantel über, alles scheint sie zu ermüden, jede Bewegung fällt ihr schwer. Während wir nebeneinander hergehen, sagt sie mir, dass sie Krebs hat, aber ich brauche einige Zeit, um zu begreifen. Ich habe das Wort »Krebs« schon gehört, »crabe«, ein Schalentier, und deshalb verstehe ich nicht sofort, dann fällt mir das Tierkreiszeichen Krebs ein, und schließlich macht es »klick«. Kein Zweifel, das Schalentier und die Krankheit namens Krebs ist ein und dasselbe. Ich denke an eine meiner ersten Mahlzeiten bei den Bergens, als wir alle am Tisch saßen und versucht haben, uns zu unterhalten, ich habe von den Ferien mit meinen Eltern in der Bretagne erzählt und erfand, nur um überhaupt etwas sagen zu können, dass ich gerne Krebse esse. Ich habe es sogar wiederholt, dass ich gerne Krebse esse, das war frei erfunden, und ich glaube, es war Thomas, der mich auf den Unterschied zwischen Krabbe und Krebs aufmerksam gemacht hat – ich hatte die Wörter verwechselt, aber das war nicht wichtig. Dieses zusammenhanglose Gespräch kommt mir jetzt wieder in den Sinn, es hatte damals keine Bedeutung, wir redeten ja einfach nur, um zu reden, und es war völlig egal, ob wir über Krabben, Garnelen oder Krebse sprachen, es ging nur darum, Unterhaltung zu machen, uns gegenseitig zu fragen und zu antworten. Frau Bergen saß damals mit am Tisch, und für sie hatte das Wort »Krebs« sicher einen ganz anderen Klang. Wusste sie damals schon, dass sie Krebs hat? Ich würde sie gern fragen, was für eine Krebsart es ist, da sagt Frau Bergen einen kurzen, tonlosen Satz, und ich spüre, dass es sich um die Brust handelt, aber sie zeigt auf meine Brust, nicht auf ihre eigene, und diese Geste überrascht mich, wir verlangsamen unsere Schritte, und ich bleibe reglos vor Frau Bergen stehen, die über dem Mantel meine Brust berührt, während ihr die Sonne ins Gesicht scheint. Es ist, als würde sie mich ausziehen, ihre Krankheit irgendwie mit mir teilen, durch diese Berührung auf mein Schicksal einwirken. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, und ich bin drauf und dran wegzulaufen, ich habe plötzlich Angst, der Krebs könne ansteckend sein, auch mich ergreifen und mich aufsaugen. Auf einen Schlag verstummt, gehen wir an den Bahngleisen entlang, die Hände in den Taschen. Ich weiß nicht, wie ich auf Frau Bergens Enthüllung reagieren und was ich sagen soll, ich stelle keine Fragen und fürchte, sie könnte mich für feige oder teilnahmslos halten. Aber mir fehlen die Worte, die sie trösten könnten, nein, es gibt kein angemessenes Wort. Um das immer bedrückender werdende Schweigen zu durchbrechen, beginne ich von der Tante meiner Mutter zu erzählen, beiße mir aber rasch auf die Zunge. Diese Frau, die ich kaum kannte, hatte Brustkrebs, das war eine Art Familiengeheimnis, und wenn man von ihr sprach, dann als »die Tante, die Krebs hat«, als würde sie sich über diese Krankheit charakterisieren. Ich habe also einen Satz über die Tante meiner Mutter angefangen, um zu sagen, dass auch die Französinnen Brustkrebs haben, dass Deutsche und Franzosen im Endeffekt gleich sind, um ihr mein Verständnis auszudrücken, ja, sogar Mitgefühl, und ihr zu sagen, dass es der Tante meiner Mutter gleich erging, doch ich bin verstummt, als mir einfiel, dass die »Tante, die Krebs hat« zur Tante geworden ist, »die an Krebs gestorben ist«. Weil ich verstummt bin, sieht mich Frau Bergen fragend an, und deshalb formuliere ich meinen Satz mit einem ermutigenden Lächeln und füge hinzu, dass sie jetzt »wieder gesund« sei, ja, sich bester Gesundheit erfreue. Ich weiß nicht, was Frau Bergen von meiner Geschichte hält, die ich naiv und mit einigen Grammatikfehlern dahergeplappert habe, ich weiß nicht, ob sie mir meine Lüge abkauft. Sie sieht mich ängstlich an, und ich spüre, dass sie wie ein Kind ist, sie folgt mir, als brauche sie

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