Das fremde Jahr (German Edition)
worden und sie habe es nur ein einziges Mal getragen. Sie ist ganz aufgeregt, macht mich mit ihrem Redeschwall ganz benommen, sie scheint wie unter Drogen zu stehen. Ich weiß nicht, was ich sagen, was ich denken soll, ich lasse mich gegen meinen Willen in diese Situation hineinziehen, der ich nicht gewachsen bin, sage immer wieder »nein, danke«, wie ein kleines Kind, das in eine Zwickmühle geraten ist, doch Frau Bergen geht mit einem fast schwärmerischen Lächeln über meine Ablehnung hinweg und sagt, ich solle das Kleid gleich überziehen, es würde sicher »wunderschön« an mir aussehen. Ich weiß nicht, ob ich mich hier vor ihren Augen ausziehen oder ins Badezimmer gehen soll, aber da legt Frau Bergen, die offenbar nicht gewillt ist, lockerzulassen, schon beherzt Hand an, und ich schiebe meine Schamgefühle beiseite – schließlich sind wir ja unter Frauen – und stehe im Slip vor ihrem Spiegelschrank. Zögernd schlüpfe ich in das orangefarbene Kleid. Das Bild, das ich im Spiegel sehe, ist trostlos. Ich sehe eine zierliche junge Frau in einem schrecklichen Tupfenkleid und glaube meine Mutter zu sehen; das springt mir förmlich ins Auge, wegen des Stoffmusters, aber auch wegen des tiefen Ausschnitts, der enthüllt, dass ich einen Busen habe, und wegen meiner nackten Beine, wo ich normalerweise nur Jeans trage. Ich fühle mich verkleidet, nie und nimmer kann ich mich in einem so bescheuerten Aufzug wiedererkennen, es kann nur ein Spiel sein, dieses Mädchen im Spiegel bin ich nicht. Frau Bergen dagegen findet mich wunderbar verwandelt, endlich käme ich zur Geltung, endlich sei ich eine Frau. Sie benimmt sich wie ein Kind vor einem Überraschungsgeschenk und ruft Nina, die auch nicht weiß, was sie sagen soll. In ihren Augen sehe ich, dass ich ihr in diesem Aufzug ganz und gar nicht gefalle. Sie verzieht den Mund, was verrät, wie lächerlich sie das Ganze findet. Ich finde, dass dieses Intermezzo lange genug gedauert hat, was Frau Bergen zu bedauern scheint. Als ich die Treppe hinuntergehe, betritt Herr Bergen gerade das Haus und sieht mich in dem orangefarbenen Kleid und mit meinen eigenen Sachen über dem Arm. Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich, mitten auf der Treppe, fällt mir wieder ein, wie er mir nach unserer Ankunft in Dänemark eine Zigarette angeboten hatte, und diese plötzliche Erinnerung schwächt den Blick ab, mit dem er mich nun mustert – ein Blick, den ich nicht an ihm kenne, inquisitorisch und fast aufdringlich.
Beim Fahren summt Frau Bergen vor sich hin, leicht und sanft, als käme wieder Leben in sie, und ich weiß nicht, welchem Umstand diese neue gute Laune zu verdanken ist. Ich weiß nicht, wie sich ihre Krankheit entwickelt, ich habe gehört, dass Frauen mit Brustkrebs recht gute Heilungschancen haben, vielleicht war es ja nur ein Warnschuss ohne schlimme Folgen. Vor der Stadtbücherei setzt sie mich ab, sagt, sie müsse noch im Büro vorbeischauen, und fragt, ob sie mich auf dem Rückweg wieder mitnehmen soll. Nein, ich fahre lieber allein nach Hause, natürlich will ich allein heimfahren, ich brauche Ruhe, keine Einsamkeit, aber ich muss wieder zu mir kommen, will wieder herausfinden, wer ich bin, will den Faden meines Lebens wieder aufnehmen und das Leben der anderen etwas beiseitelassen. Andererseits würde ich gern Leute treffen, Gleichaltrige, mit denen ich mich verabreden, diskutieren oder abends ausgehen kann. Ich schaue mich in der Bücherei genauer um als sonst, ich nehme mir die Zeit, die Augen zu öffnen und die Menschen und die Welt um mich herum bewusster anzusehen; ich achte auf das Kommen und Gehen der Besucher, aber alle scheinen sich nur auf ihr Ziel zu konzentrieren, sind unnahbar, ganz in ihrer eigenen Welt. Ich beschließe, heute einmal in eine neue Abteilung zu gehen, nicht in den großen Lesesaal, wo man nebeneinandersitzt, ohne sich zu begrüßen oder auch nur anzusehen, höchstens ab und zu mit leerem Blick den Kopf hebt, um sich anschließend noch tiefer in seine Lektüre zu versenken. Jedenfalls kann ich mich absolut nicht konzentrieren, weder auf Thomas Mann noch auf die deutsche Geschichte, die ich spannender finde, als ich gedacht hätte; vorhin, beim Aussteigen aus dem Auto, dachte ich noch, ich würde anfangen zu weinen, aber das habe ich mir auf dem Vorplatz der Stadtbücherei verboten, ich habe gespürt, dass es besser war, meine innere Anspannung zu unterdrücken, denn wenn ich meinen Emotionen erst einmal freien Lauf lasse, fürchte
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