Das fremde Jahr (German Edition)
dem Hof eines großen Hauses an, als die Sonne gerade verschwindet, und wir parken das Mofa in der Nähe von anderen Zweirädern. Wir holen die mitgebrachten Flaschen aus den Packtaschen und gehen zur Haustür. Andreas’ Eltern öffnen uns die Tür, und wir unterhalten uns eine Weile mit ihnen in der Küche. Sie freuen sich, dass eine Französin zu Besuch gekommen ist. Dann gehen wir in den Kellerraum, wo die Party stattfindet und wo bereits ein gutes Dutzend Heranwachsender versammelt sind. Ein kurzer Blick sagt mir, dass ich die Älteste bin, aber noch sind ja nicht alle da. Wir stellen die Sodaflaschen auf einen Tisch an der Wand, setzen uns auf eine der Bänke und harren der Dinge, die da kommen. Die Musik ist schon so laut, dass man sich kaum unterhalten kann. Ich kenne nur Andreas und Gunther, die beiden Freunde von Thomas. Die Mädchen sind blond und tragen kurze Röcke über Strumpfhosen. Ich hole mir etwas zu trinken in einem Plastikbecher, setze mich dann wieder auf die Bank und wippe im Takt zur Musik mit dem Fuß. Niemand tanzt, es ist noch zu früh, niemand spricht, nur ein paar Jungen lachen in einer Ecke, an eine Tür gelehnt. Andreas läuft mehrmals nach oben und kommt mit den Armen voller Proviant in den Keller zurück. Ich frage ihn, ob ich ihm helfen kann, nur um etwas zu tun zu haben. Ich unterhalte mich ein bisschen mit seinen Eltern, ich weiß nicht, wie der Abend verlaufen wird, bin aber noch voller Hoffnung. Weitere junge Leute treffen ein, mit Handschuhen und Helm, sie kommen mir im Treppenhaus entgegen. Andreas dreht an den Spotlights herum, und plötzlich befinden wir uns in einem abgedunkelten Raum mit bläulichem Licht. Die Musik gefällt mir nicht, es ist ein recht dumpfer Heavy Rock, zu dem man unmöglich tanzen kann. Im Übrigen wagt sich kein Mensch auf die Tanzfläche, jeder schlendert nur hin und her, meist an den Wänden entlang, setzt sich ab und zu woandershin, ein Glas Bier oder eine Cola in der Hand. Andreas, als guter Organisator, überwacht das Geschehen, ohne sich zu einem bestimmten Grüppchen zu gesellen. Thomas scheint mich vergessen zu haben. Nachdem er mich seinen Freunden vorgestellt hat, lässt er mich auf der Bank sitzen, weil er vermutlich denkt, dass ich alt genug bin, um mich allein behaupten zu können. Doch ich kann nichts einsetzen, weder Worte noch Blicke oder meine Körpersprache, nein, ich bin nur ein zitteriger Schatten in bläulichem Licht, ohne Gesicht und ohne Lächeln. Ich beginne zu ahnen, dass dieser Abend nicht sehr spannend wird, und der Altersunterschied zwischen mir und den anderen Gästen ist nicht zu übersehen. Ich gehöre nicht mehr in ihr Lager, bin keine richtige Heranwachsende mehr, aber auch noch nicht ganz erwachsen; ich schwebe zwischen zwei Welten, die sich nicht wirklich treffen, ich stehe zwischen zwei Entwicklungsstadien, die sich überlagern und gegenseitig aufheben. Zwei Lebensräume, die sich gegenüberstehen, so dass ich bisweilen auf der Strecke bleibe. Ich hoffe noch immer, dass auch Leute meines Alters kommen werden, gewinne aber immer mehr den Eindruck, dass nur Klassenkameraden von Andreas und Thomas eingeladen sind, die maximal fünfzehn Jahre alt sind. Ich stehe auf und schenke mir noch ein Glas ein, beobachte, was um mich herum passiert, wie die einen auf die anderen zugehen, wie die Körper sich anziehen oder abstoßen. Ich begreife plötzlich, dass ich die Einzige bin, die keiner kennt, doch das merkt man nicht, niemand schaut mich neugierig an, man schenkt mir keine Aufmerksamkeit, nichts, ich spüre nichts. Die Tatsache, dass ich ein Mädchen bin, könnte einige der Jungs, auch wenn sie jünger sind, neugierig machen, aber nein, die Jungen hier scheinen sich noch nicht für Mädchen zu interessieren, sie bleiben unter sich in der Nähe des Plattenspielers und sind mit den LP s zugange, die sie aus ihren Hüllen holen und wieder hineinschieben. Die Mädchen scheinen sich auch nicht sonderlich für die Jungen zu interessieren, ich verspüre lediglich eine gewisse Kameradschaftlichkeit; hier erinnert nichts an die Atmosphäre der Partys, auf denen ich in Frankreich war, wo es in erster Linie um das Spiel der Verführung ging. Seit ich in Deutschland bin, hat sich kein Junge für mich als potentielle Freundin interessiert, nein, ich hatte von einem Tag auf den anderen das Gefühl, nicht mehr zu existieren, ich sah mich verschwinden. Liegt es an meinen kurzen Haaren und meiner androgynen Ausstrahlung? Oder hat es schon
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