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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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davor begonnen und ich habe es nur nicht bemerkt? Wann haben die anderen aufgehört, mich anzusehen? Ein paar Mädchen beschließen zu tanzen, werfen ihre Haare im Takt zur Musik um die Schultern, einige Jungs treten nach vorn, gehen in die Knie und tun unweigerlich so, als würden sie ein Gitarrensolo mit höchst komplizierten Akkorden spielen, einer lässt sich auf den Boden fallen, windet sich, indem er virtuell weiterspielt und die anderen auffordert, es ihm nachzumachen. Und es dauert nicht lange, bis sich alle Jungs in
guitar heroes
verwandelt haben. Die Bewegungen der tanzenden Mädchen werden selbstsicherer, und bald schon gehen alle in den sonoren Rhythmen auf, die die Wände des Kellerraums zum Beben bringen. Ich schaue zuerst nur zu, ohne mitzumachen, doch weil ich nicht als Spielverderberin dastehen will, mische ich mich unter die Tanzenden und tanze zu »Highway to Hell« von
AC  /  DC
, während ich tapfer mitsumme. Dann trinke ich aus Langeweile, ich mag kein Bier, versuche aber, in eine andere Stimmung zu kommen, die mich mitreißt, wie sie die anderen mitreißt. Der Abend geht mit einer Aneinanderreihung von hektischen Songs weiter, und ich zwinge mich, auf der Tanzfläche zu bleiben, obwohl mir inzwischen klargeworden ist, dass ich von diesem Abend nichts mehr zu erwarten habe; ich bin inzwischen davon überzeugt, dass mich kein Mensch ansprechen wird und dass auch ich niemanden anspreche, in dem Gefühl, dass ich die Welt der Adoleszenz vermutlich hinter mir habe, dass sich das Blatt gerade wendet, was ich deutlich spüre, als ich sehe, wie sich die Jungen auf dem Boden wälzen, wie die Mädchen an ihren Röcken herumzupfen, und als ich auf die Mineralwasserflecken auf der zerrissenen Papiertischdecke starre.
    Thomas’ Mofa springt nicht auf Anhieb an. Ich frage mich, ob er vielleicht zu viel getrunken hat, doch er versichert mir, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Ich setze mich hinter ihn und wir fahren die Strecke in umgekehrter Richtung, in der Kälte einer mondlosen Aprilnacht. Wir fahren an einem Tannenwald vorbei, dann an einem kleinen Birkenhain, aber die Nacht ist schwarz, und ich habe Angst, dass ein Tier ins Scheinwerferlicht rennen könnte. Alle hier reden davon, dass Wildschweine eine Menge Unfälle verursachen. Ich habe den Eindruck, dass wir schneller fahren als vorhin, was daran liegen könnte, dass die Straße etwas abfällt. Wir fahren wieder über den Bahnübergang. Ich achte darauf, dass ich mich nicht zu fest an Thomas klammere; ich halte mich zurück, obwohl ich Lust verspüre, mich festzuhalten und meinen behelmten Kopf an seinen Rücken zu legen. Ich entspanne mich, ich weiß, dass uns nichts passieren kann, ich bin mir sicher, dass er mich versteht, ich weiß, dass er mich mag. Ich habe ihm nichts von Leo erzählt, ich lehne mich an Thomas, der durchaus auch Leo sein könnte; aber ich bin nicht blöd, ich weiß wohl, dass Thomas mir nicht helfen kann, wie unsinnig dieses dämliche Spiel ist. Trotzdem stelle ich mir einige Minuten lang vor, dass ich auf Leos Mofa sitze, wie früher, als meine Mutter uns nachrief, ja gut aufzupassen, die wenigen Male, als Leo mich ans andere Ende unseres Stadtviertels fuhr, wo ich meine Gitarrenstunden hatte. Ich sitze an Leos Rücken gelehnt und drücke ihn an mich, rieche die vertrauten Gerüche: Benzin, die frische, mit Feuchtigkeit durchtränkte Luft, der Asphalt nach einem Regen; ich lehne mich an Leo, und zum ersten Mal laufen mir Tränen über die Wangen, die der Fahrtwind an meine Schläfen fließen lässt, als wir nun fast geräuschlos das letzte Stück hinunterfahren. Liegt es daran, dass ich etwas getrunken habe? Oder an der Müdigkeit? Oder an dem, was mir an diesem Abend klargeworden ist? Ich weine, doch es tut nicht weh. Es sind unsere beiden Körper, die sich im Moment so nahe sind und die dieses Gefühl ausgelöst haben, unsere lebendigen, ungeduldigen Körper. Als wir das Haus betreten, erwartet uns Herr Bergen im Wohnzimmer. Wir sagen ihm nur kurz, dass wir einen schönen Abend hatten; unfähig, mehr zu sagen oder im hell erleuchteten Wohnzimmer zu bleiben, trennen wir uns dann und gehen schlafen.
     
    Wir bringen Frau Bergen zum Bahnhof. Ich erinnere mich noch gut, wie vereist der Boden war, als ich damals, vor vier Monaten, aus dem Zug stieg, und wie beunruhigend ich das viele Weiß fand. Der Schnee ist geschmolzen, doch die Wolken hängen so tief und jagen schnell über den Himmel, und der Wind ist so heftig,

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