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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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aber leerer Gesten leben. Das liebe und fürchte ich zugleich, ich fühle mich angezogen und abgestoßen, befinde mich in einem sonderbaren Gemütszustand. Frau Bergen steigt in den Zug, wir stellen uns vor das Fenster, wie in den Filmen ohne Happy-End, und warten auf das Signal zur Abfahrt, damit die Abschiedsszene auch wirklich filmreif ist und sich in unser Gedächtnis eingräbt. Wir wohnen der Abreise bei, die die Schwere einer zu intensiven Emotion und die Idee einer ungewissen Wiederkehr in sich trägt.
     
    Mein Vater ist am Telefon nicht sehr gesprächig. Zuerst denke ich, dass er sich verpflichtet fühlt, mit mir zu reden. Es ist meine Mutter, die mich an ihn weiterreicht, nach stabilen, beruhigenden und absolut kontrollierten zehn Minuten, zu denen nur meine Mutter fähig ist. Sie hat von den Osterferien erzählt, die in Frankreich anstehen, und dass sie eine Woche Urlaub nimmt, um durchschnaufen zu können, wie sie hinzufügt und gleich noch erwähnt, dass sie nicht unbedingt erschöpft ist, zurzeit aber Probleme mit ihrem Chef hat; nach außen hin sei alles in Ordnung, aber es würde ihr nicht schaden, für einige Tage den Problemen im Betrieb zu entfliehen. Sie stellt Fragen, die sie wie üblich auch selbst beantwortet, lässt keinen Raum für Ungesagtes, fürs Luftholen, keine Möglichkeit zum Schweigen oder für Gefühle, nur keine vertane Zeit! Sie sagt mir, dass sie sich etwas ausgedacht habe für ihre freien Tage, sich aber nicht sicher sei, ob es eine gute Idee ist. Dann gibt sie mir Papa, das soll Papa mit mir besprechen, sie gibt das Baby an den Papa weiter, dessen Stimme ich plötzlich im Hörer höre, übergangslos; ich bin im Wohnzimmer der Bergens, der Fernseher läuft, drei Personen sitzen davor, die Erwachsenen und Nina, und ich habe direkt hintereinander meine Mutter und meinen Vater in der Leitung, unmittelbar nach dem Abendessen. Ich habe den Tisch noch nicht abgeräumt; Thomas hilft mir ohne großen Eifer, stellt den Quark, den wir nicht aufgegessen haben, in den Kühlschrank zurück und macht die Tür mit einem leichten Fußtritt zu; Herr und Frau Bergen zünden sich je eine Zigarette an und blasen den Rauch in meine Richtung, während ich die Stimme meiner Mutter, dann die meines Vaters höre, kurz nach halb neun Uhr abends, wenn das Telefonieren billiger ist. Und mein Vater, von dem ich seit Wochen nichts mehr gehört habe, erklärt mir mit fast fröhlicher Stimme, dass Mama und er planen, mich während ihrer Osterferien in Deutschland zu besuchen. Ah. Tiefes Luftholen. Die Bergens scheinen ganz auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentriert und halten im gleichen Augenblick wie ich kurz inne, und ich glaube, dass mein Kopf oder mein Blick oder meine Gesten oder mein Zittern verraten, welche Panik plötzlich in mir aufsteigt. Ich weiß nicht, warum, es geschieht instinktiv, unmittelbar, automatisch, aber ich nehme meinem Vater sofort den Wind aus den Segeln. Ich wende den Bergens den Rücken zu, damit sie mein Gesicht nicht sehen können und nicht Zeuge meiner verwirrten, heftigen Gefühle werden, als ich meinem Vater erkläre, dass es leider nicht geht, wirklich schade, aber ausgerechnet da würden wir mit den Kindern eine mehrtägige Reise nach Berlin machen, da ja auch hier Osterferien sind; ja, die Sache sei schon seit längerem geplant, es gehöre mit zu meinen Pflichten, die Kinder zu begleiten, ich könne jetzt nicht mehr absagen, wir würden mit dem Bus hinfahren; ich zähle einige weitere Details auf, um mein Ammenmärchen zu untermauern, ich könne Herrn Bergen nicht enttäuschen, dessen kranke Frau zu schwach sei, um sich um Nina und Thomas zu kümmern. Da mein Vater schweigt, frage ich, ob er noch dran ist, ich denke, dass die Leitung zusammengebrochen ist, aber nein, er hört sich meine weiteren Erklärungen an, und ich frage mich, ob er meine Anspannung spürt oder ob er mir jedes Wort glaubt, ich frage mich, ob ihm meine Absage im Endeffekt nicht sogar gelegen kommt. Er insistiert nicht, schlägt keine Alternative oder eine andere Lösung vor, die Reise zu verschieben zum Beispiel, oder ihren Urlaub, nein, er seufzt nur und sagt, dass das sehr schade sei, sie hätten so gern den Norden Deutschlands kennengelernt, das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, aber es sei ja nur ein spontaner Einfall gewesen, sagt er, eine vage Idee, die Idee deiner Mutter, um ganz genau zu sein, sie wird enttäuscht sein, und als wir auflegen, sind wir beide beschämt, dass dieses

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