Das fremde Jahr (German Edition)
treiben, Partys organisieren, laute Musik hören, Alkohol trinken und Sex haben. Junge Leute, deren Tage sich zwischen Schule und Freunden abspielen, die so wenig Zeit wie möglich mit ihrer Familie verbringen, ihren Vätern und Müttern aus dem Weg gehen, ab und zu die Türen knallen, sich in ihrem schwarzgestrichenen Zimmer einschließen. Ich möchte junge Leute treffen, die sich den Luxus erlauben können, sich mit ihren Lehrern oder Eltern anzulegen, mit der ganzen Gesellschaft, ja, junge Leute, die rebellieren – eigentlich die normalste Sache der Welt. Ich möchte wie sie sein, mit ihnen zusammen sein, mit ihrer Umgebung verschmelzen. Aber ich gehe in die Stadt und finde niemanden, ich gehe durch die Geschäfte und sehe niemanden, ich trinke einen Tee in einem
Kaffeehaus
und komme mit niemandem in Kontakt. Ich bleibe allein auf den Straßen der Innenstadt, sitze allein in der Stadtbücherei und werde von niemandem angesprochen, der mich meinem Schicksal entreißen könnte. Ist es so, wenn man eine Fremde ist? Führt man ein paralleles Leben, ist nicht erwünscht, lebt auf der anderen Seite, hinter einer Glasscheibe, und schaut zu, wie sich die Welt ohne einen dreht? Wo sind die Gleichaltrigen? Sie bleiben unter sich, in ihren Schulen, ihren Sportvereinen und ihren Diskotheken. Sie brauchen mich nicht, wissen nicht einmal, dass es mich gibt. Wie kann ich an sie herankommen?
Könnte ich mit anderen Jugendlichen über
Mein Kampf
sprechen, sofern ich endlich welche träfe? Würde ich es wagen? Sähe es nicht womöglich so aus, als würde ich ihnen etwas vorhalten, für das sie genauso wenig verantwortlich sind wie ich? Diese Gedanken schwirren mir durch den Kopf, abends in meinem Zimmer, während ich mehrmals die Sätze lese, die mir so furchtbar erscheinen und über die ich gern mit anderen Jugendlichen sprechen würde. Ich frage mich, ob alle, die
Mein Kampf
gekauft haben, es auch gelesen haben. Durch Recherchen in der Bücherei erfahre ich, dass das Buch in Deutschland zwischen 1925 und 1945 über zehn Millionen Mal verkauft wurde. Der Staat hat es sogar allen Paaren zur Hochzeit geschenkt. Ich erfahre außerdem, dass es in ungefähr fünfzehn Sprachen übersetzt wurde und dass die französische Version verfälscht wurde, damit die Franzosen nichts von Hitlers wahren Absichten erfuhren. Und ich merke, dass Thomas Mann seinen
Zauberberg
ein Jahr vor dem Erscheinen von
Mein Kampf
veröffentlicht hatte, vorher hatte ich nicht auf diese Jahreszahlen geachtet.
Ich habe nicht nein gesagt, als Thomas mir eines Abends vorschlug, mit ihm auf Andreas’ Party zu gehen, seinem Freund, der manchmal zu ihm kommt und mit dem er Musik macht. Diesmal habe ich nicht vorgegeben, dass ich Angst vor dem Mofafahren habe, auch nicht, dass ich arbeiten muss oder Kopfschmerzen habe. Thomas leiht mir ein Paar Lederhandschuhe und einen Helm ohne Visier, ich warte, bis er den Motor angelassen hat, ehe ich mich hinter ihm auf den Gepäckträger setze. Nina findet es zum Schieflachen, dass ich mit ihrem Bruder wegfahre, sie ist sogar etwas eifersüchtig. Wir fahren am Waldrand entlang, die Straße ist feucht, aber Thomas fährt gut und hält sich an Frau Bergens Ermahnung, ja kein Risiko einzugehen. Das Mofa fährt leise, es ist noch hell und die Tannen werfen lange Schatten über die Straße, wie immer kurz vor Sonnenuntergang. Ich habe beide Arme um Thomas geschlungen, versuche aber, ihn nicht zu umklammern, ich will nicht, dass er meine Anwesenheit spürt. Ich tue so, als fühlte ich mich total wohl, gehe in den Kurven leicht mit, lasse mich unbekümmert über die fast leere Straße fahren. Uns kommen nur wenige Autos entgegen, alle schon mit Scheinwerferlicht, hier fährt man offenbar Tag und Nacht mit eingeschalteten Scheinwerfern. Ich staune darüber, wie gut ich mich fühle, die frische Luft steigt mir etwas zu Kopf, als Thomas beschleunigt, aber es ist ein herrliches Gefühl und ich genieße Thomas’ Nähe. Nach einigen Kilometern fahren wir über einen Bahnübergang und rutschen um ein Haar weg, und ich stoße einen Schrei aus, dann fahren wir das letzte gerade Stück an einem kleinen Fluss entlang und gelangen schließlich auf einen Weg aus gestampfter Erde voller Kieselsteine und Pfützen. Ich hebe die Füße hoch, um keine Spritzer abzubekommen, die Arme noch immer um Thomas’ Taille geschlungen, und wappne mich innerlich dafür, jeden Augenblick abzuspringen, falls der Weg zu uneben werden sollte. Wir kommen auf
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