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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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zu haben in seinem Studio im Erdgeschoss, mit Blick auf einen kleinen Garten, auf den der Regen fällt. Was mich stört, ist das mitten im Zimmer stehende Bett, so als reduziere sich ein ganzes Leben auf ein Bett: das Bett, in dem man geboren wird, in dem man Kinder zeugt und in dem man stirbt, womit die Augenblicke größter Intimität im Leben offen zur Schau gestellt werden. Aber der Großvater steht angezogen da. Er entschuldigt sich bei mir auf Französisch, dass er mir nicht viel anbieten kann, und ich antworte, ebenfalls auf Französisch, dass das nicht schlimm sei. Er zieht den Vorhang ein wenig weiter auf, damit wir den Garten besser sehen können, aber die Scheibe ist beschlagen, und das zwingt uns, unseren Blick wieder auf das Zimmer zu beschränken. Die Situation wird schnell unerträglich. Der Großvater ist unsicher, wie er uns bewirten, wie er sich verhalten, in welcher Sprache er reden soll. Er steht in den zwanzig Quadratmetern seines Zimmers, stützt sich leicht auf einen Bettpfosten, als er ein Stück geht, holt sich ein Taschentuch, um seine Brille zu putzen und verstummt schließlich ganz. Nach ein paar peinlichen Minuten des Schweigens fragt er mich, ob ich aus Paris komme. Und um ihn nicht zu enttäuschen und ein Gespräch in Gang zu bringen, sage ich ja, ich wohne mit meinen Eltern in Paris. Dann will er wissen, wer mein Vater und meine Mutter sind, was sie machen, in welchem Stadtviertel wir wohnen, wie ich mit Nachnamen heiße. Er fragt mich, ob ich Geschwister habe. Er will auch wissen, warum ich ausgerechnet Deutschland gewählt hätte, wo es in Europa noch andere Zielorte gäbe. Ich antworte auf Französisch, erfinde eine Adresse in Paris in dem einzigen Viertel, das ich kenne, Montparnasse, wo meine Cousine Danielle wohnt. Ich übersetze einzelne Bruchstücke für Herrn Bergen, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlt, erzähle auch die eine oder andere meiner kleinen Lüge oder biete ihm somit eine recht pauschale Zusammenfassung ohne unangenehme Details an. Der Großvater sagt, Paris sei für ihn die schönste Stadt auf der Welt und dass er sich nie davon erholt habe, dass er sie damals verlassen musste, aber er schildert keine Einzelheiten, gibt nichts preis. Er erwähnt nur, dass er damals während der Besatzungszeit als Flieger nach Paris gekommen war und nach Kriegsende noch ein paar Monate dort gelebt hat. Ich vermute, dass es nicht nur die Schönheit der Stadt war, die ihn in Frankreich bleiben ließ. Ich verstehe nicht ganz, was er mir wirklich sagen will, und denke mir nur, dass es für einen Deutschen nach Kriegsende völlig undenkbar gewesen sein muss, in Frankreich zu bleiben. Während wir reden, steht Herr Bergen auf und geht aus dem Zimmer, als würde ihn unsere Unterhaltung langweilen. Es ist übrigens keine richtige Unterhaltung, es sind eher ein paar Sätze zwischen zwei Menschen, die nicht auf derselben Stufe stehen: der eine kennt die Gewalt der Nazi-Vergangenheit und hat sie am eigenen Leib erlebt, der andere steht erst am Anfang seines Weges, weiß bereits alles über Gewalt und nichts über die Nazi-Vergangenheit. Wir stehen auf, um das Zimmer zu verlassen, und ich biete dem Großvater meinen Arm an, um ihn zu stützen. Als wir über die Schwelle treten, sagt er in einem Ton, der das ganze Ausmaß seines Schmerzes ausdrückt, er habe damals eine Französin geliebt. Ich antworte mit einem einfachen »oui«. Und plötzlich merke ich, wie verletzbar es mich macht, Französisch zu sprechen, ich spüre, dass es mich empfindlich macht, als bewegte ich mich einen Schritt seitlich, wieder auf mich zu, als klebte ich die Stücke neu zusammen. Ich habe Angst, dass der Großvater von seinen Emotionen überwältigt werden könnte. Aber nein, der alte Mann hat natürlich längst gelernt, seine Gefühle im Zaum zu halten. Wir heben den Kopf, er und ich, setzen dem Ansturm der Vergangenheit ein Ende und gehen schweigend durch den Gang, wir lassen unsere Toten außer Reichweite der Sprache, an einem Ort, der nur uns selbst gehört. Wie immer spricht man nicht über die wirklich wichtigen Dinge, denke ich mir, man hält sich lieber vage, lässt die anderen raten. In der Empfangshalle des Altersheims stoßen wir auf Herrn Bergen und setzen uns an einen kleinen Tisch. Ich mustere Herrn Bergen verstohlen und frage mich, ob seine Mutter womöglich Französin war. Er zieht Papiere aus seiner Tasche und legt sie auf den Tisch, Formulare unterschiedlicher Größe und Farbe. Die beiden

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