Das fremde Jahr (German Edition)
Männer vergessen mich und beschäftigen sich mit diesen Papieren, vermutlich Verwaltungskram. Sie verfallen wieder in ihren Dialekt, ich stehe auf, gehe durch den Raum, in dem noch andere alte Menschen sitzen, und stelle mich ans Fenster. Von dort aus schaue ich dem Regen zu. Als hätte ich mit meinen siebzehn Jahren nichts Besseres zu tun.
Simons Brief, der heute Morgen gekommen ist, gibt mir neue Kraft. Seine Verliebtheit macht mich richtig neidisch; wie sehr wünsche ich mir, dass ein Junge so von mir sprechen würde wie er von Edith! Aber seit Leos Unfall gelingt es mir nicht mehr, mich lebendig zu fühlen. Mein Körper ist wie verkrampft, meine Sinne haben sich so weit zurückgezogen, dass ich eine ganz andere geworden bin, ein Mädchen, dessen Gesten ihr inneres Chaos verraten. Seit Leo nicht mehr da ist, ertrage ich es nicht mehr, dass man mir Aufmerksamkeit schenkt, ich bemühe mich zu verschwinden, ich wäre am liebsten nicht mehr aus Fleisch und Blut, um meinen Körper nicht mehr herumtragen zu müssen, wäre lieber nur noch Geist und komplett unsichtbar. Kein Junge setzt sich der Gefahr aus, sich für mich zu interessieren, ich mache ich ihnen ohne Zweifel Angst. Ich hätte nie gedacht, dass Leo, als er noch lebte, einen so großen Einfluss auf mein Leben haben könnte. Solche Dinge weiß man nicht. Ich dachte, ich sei von Natur aus unbekümmert und leichtfertig, und das würde ewig so bleiben. Bekannte, die Probleme, fixe Ideen oder Komplexe hatten, waren in meinen Augen bedauernswerte, arme Dinger, um die man besser einen großen Bogen macht. Ich dachte, manche Leute seien interessant, andere nicht, manche anziehend, andere nicht. Für mich gab es auf dieser Welt nur zwei Sorten von Menschen: Gewinner und Verlierer. Nie hätte ich gedacht, dass man von der einen Kategorie in die andere fallen könnte, dass man unvermittelt zum Schatten seiner selbst werden kann, auch wenn man einige Tage zuvor noch voller Leben war. Erst heute kann ich ermessen, wie schwierig es ist, bei sich zu bleiben, sich wiederzuerkennen, die sterbliche Hülle, die noch als Körper dient, nicht zu hassen, und die neue Haut zu akzeptieren, in die man geglitten ist und die einem so schlecht passt. Ich verachte dieses zerrupfte Wesen, als das ich mich nunmehr wahrnehme, so, als wäre mir eine Hautschicht nach der anderen abgegangen, bis nur noch wundes, rohes Fleisch sichtbar ist. Ich lese Simons Brief jetzt noch einmal, weil er mich wieder zurück ins Leben zieht, auf das unvorstellbare Glück des Liebens zu, und instinktiv denke ich mir, dass ich das auch erreichen möchte. Vermutlich habe ich diese vielen Kilometer nur deshalb zurückgelegt, um mich zu verlieren, aber vielleicht auch, um mich zu finden; um mich dieses Mädchens zu entledigen, das ich geworden bin, scheu und durchsichtig, verletzlich, unberechenbar, ein Mädchen voller Widersprüche, innerlich zerrissen, keines Wunsches und zu keiner Entscheidung fähig. Ich möchte nichts mehr wissen von dem Mädchen, das sogar so weit gegangen ist, auf seine Sprache zu verzichten, damit die Metamorphose stattfinden konnte, das sogar seine Vergangenheit abstreifte, den Eltern neue Berufe andichtete, über den Ort seiner Herkunft log, das seine Brüder nie erwähnte, weder den lebenden noch den toten. Nun aber, da ich jede Nacht auf Deutsch träume, die Anpassung vollzogen ist und ich ein hybrides Wesen geworden bin, nun, da ich in eine fremde Kultur eingetaucht, um nicht zu sagen in ihr untergegangen bin, möchte ich das Französische wiederfinden, die Sprache, in der ich mit meiner Mutter telefoniere, in der mir Simon schreibt, die mich mit Leo verband. Ich möchte endlich fähig sein, meine schlechten Träume abzuschütteln, mich der deutschen Wörter zu entledigen, die wie Wickel oder Umschläge wirken, eigenartige Bandagen, die zeigen, dass ich nur noch eine Mumie bin. Es ist Zeit, dass ich das Mädchen wiederfinde, das ich bin. Nicht die, die ich früher war, mit all ihren Erwartungen, sondern jemand, der keine Angst vor seinen Gefühlen hat, die aufhört zu fliehen und den Blick der anderen erträgt. Eine große Schwester, die sich endlich trauen würde zu weinen.
Ich würde gern Gleichaltrige kennenlernen. Ich bin noch zwei Monate hier, und die Erwachsenen laugen mich aus. Ich brauche junge Menschen, Siebzehnjährige mit Problemen von Siebzehnjährigen, Hoffnungen, Ängsten und Enttäuschungen. Ich möchte Jugendliche kennenlernen, die gut drauf sind, die Sport
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