Das fremde Jahr (German Edition)
dass uns die wenigen Meter, die wir zu Fuß gehen müssen, unmöglich weit erscheinen. Wir müssen eine kurze Flaute zwischen zwei Windstößen abwarten, um bis zum Haupteingang rennen zu können, der in die große Bahnhofshalle führt. Herr Bergen trägt den kleinen Koffer und geht sehr behutsam damit um. Was wohl darin ist? Frau Bergen wirkt angespannt, ist sehr schweigsam, kontrolliert mehrfach die Abfahrtszeit ihres Zuges. Sie hält Nina an der Hand, ich habe Angst, dass Nina sich im letzten Moment an sie klammert und sie nicht gehen lassen könnte. Thomas wollte nicht mitkommen; als wir wegfuhren, lag er noch im Bett. Herr Bergen ging zweimal zu ihm hoch, es gab einen kurzen, lauten Wortwechsel, den man sogar unten in der Küche hörte, dann nichts mehr. Danach kam Herr Bergen wieder nach unten, bedrückt und niedergeschlagen. Frau Bergen fährt zu ihren Eltern, und über der kurzen Reise von achtundvierzig Stunden liegt eine seltsame Schwere. Ich verstehe noch immer nicht alles. Einen Teil der Unterhaltung im Auto habe ich nicht mitbekommen, ich weiß nicht, ob es einen besonderen Grund für Frau Bergens Reise gibt oder ob sie regelmäßig zu ihren Eltern in den Osten fährt. Wieder einmal habe ich keinen Zugang zur Realität, ich versuche das, was ich glaube zu wissen und das, was ich mir denke, in Übereinstimmung zu bringen, was unweigerlich zu einer romanhaften Version führt. Ich erfinde jedes Ereignis von neuem, indem ich es erlebe, verleihe ihm die Bedeutung, die mir gelegen kommt, ich interpretiere und jongliere so geschickt von einer Vermutung bis zu einer logischen Schlussfolgerung, dass mich das Leben hier nicht wirklich erreicht, dadurch kommt es natürlich zu einer Phasenverschiebung; ich schwebe in einer Parallelwelt, die mich verschont, mich abseits hält, mich schützt, mir aber auch die schlimmste aller Einsamkeiten beschert. Mir gefällt die Vorstellung, dass Frau Bergen nicht häufig in den Osten fährt, ich glaube, dass es eher selten vorkommt, weil die Behörden sicher eine Menge Papiere verlangen. Mich wundert auch, dass sie allein fährt, als hätte sie eine Mission zu erfüllen. Bei uns würde man nie allein verreisen, meine Eltern kleben stets aneinander, obwohl ihnen das Zusammenleben so schwerfällt, und wir Kinder saßen immer unweigerlich auf der Rückbank. Mir gefällt der Gedanke, dass das Leben hier gefährlicher ist als das Leben in Frankreich, weil der Osten, die Mauer und die Wachtürme so nah sind, die sichtbaren Konsequenzen der Geschichte, während in Frankreich nichts zu sehen ist, nichts gesagt wird; fast so, als hätte es den Krieg nie gegeben. Ich frage mich plötzlich, wie meine Familie ihn erlebt hat, ich frage mich, warum wir nie darüber gesprochen haben. Sonntags haben wir bei den Großeltern im Fernsehen Sportsendungen geschaut, das Turnier der fünf Nationen, das Tennis-Open, wir haben vor dem Grand Prix der Formel 1 Kuchen gefuttert, ohne den Krieg auch nur am Rande zu erwähnen, das ist kein Gesprächsthema. Außerdem hatten wir noch Algerien, aber da gab es keine Gefallenen, keine Helden, nur die vertuschte Depression meines Vaters seit seiner Rückkehr aus Aurès, die aber vermutlich nichts mit Algerien zu tun hat, wie meine Mutter sagen würde, sondern vielleicht nur eine »Nachwirkung« ist, woher soll man das wissen? Ein Begriff, um den wir lange herumgeschlichen sind, meine Brüder und ich, die »Nachwirkung«, und das so intensiv, dass wir daraus eine kraftvolle Mythologie gebastelt haben, bestehend aus all dem Ungesagten, das wir im Laufe der Jahre am Küchentisch aufgeschnappt haben. Aus ungesagten Dingen, aber auch aus Wörtern, die im Raum schwebten, aus Andeutungen, Anspielungen und dem kleinen Karton mit Fotos, der im elterlichen Schlafzimmer im Nachttisch eingeschlossen ist.
Frau Bergen ist schön, das ist mir gleich bei meiner Ankunft aufgefallen, und ich habe es auch danach Tag für Tag festgestellt, aber heute ist sie noch schöner, als ihre Augen immer wieder zu den Zeigern der großen Bahnhofsuhr huschen, ihre müden Augen mit den Schatten, die ihrem Gesicht einen Hauch von Tragik verleihen. Ich liebe die Eleganz dieser Frau, über deren Haupt ein Damoklesschwert schwebt, die von ihrem Mann nicht aus den Augen gelassen wird, die er tollpatschig liebt und auf ergreifende Art begleitet. Ich nehme gern am Leben dieser komischen, verlorenen Menschen teil, die von allem überfordert sind, zaudern und im Übermaß und in der Schönheit ehrlicher,
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