Das fremde Jahr (German Edition)
Telefonat so jämmerlich endet und keiner von uns den Wunsch nach einem Wiedersehen verspürt hat.
Nachdem ich aufgelegt habe, bleibe ich noch eine Weile neben dem Telefon sitzen, spüre im Rücken die Blicke der Bergens, schäme mich für das, was ich gerade getan habe. Dann stehe ich auf und räume die Küche fertig auf, mein Bauch schmerzt, alles in mir tut weh. Ich verstehe nicht, warum ich den Vorschlag meiner Eltern so rigoros abgelehnt habe, ich fühle mich grausam und schuldig. Ich schäme mich für das, was ich zu meinem Vater gesagt habe, dafür, dass ich ihm einen Korb gegeben habe. Ich fühle mich noch mieser, als mir klarwird, dass diese Reise für meine Eltern vielleicht eine besondere Bedeutung gehabt hätte, vielleicht wäre sie nur ein Vorwand gewesen, etwas gemeinsam zu unternehmen, ein gemeinsames Ziel zu haben und endlich einmal aus ihrer Wohnung herauszukommen. Der mögliche Beginn eines neuen Lebens? Ich dagegen habe ich nur an mich gedacht, mich von meiner Angst leiten lassen, bin in Panik geraten, wollte mich ein weiteres Mal schützen, mir meine Eltern vom Hals halten, ich hatte Angst, sie würden mich nur benutzen, um sich wieder einander anzunähern; Angst vor ihrem erneuten Zueinander-finden, vor ihren Bemühungen, die Schwere zu besiegen. Ich habe einfach nur deshalb nein gesagt, um sie nicht mehr als Paar erleben zu müssen. Ich konnte nicht akzeptieren, dass ihre Partnerschaft kaputt war, und genauso wenig würde ich akzeptieren können, dass ihre Bindung wieder enger wird. Das will ich nicht sehen. Ich will nicht, dass sie mich sehen. Ich fürchte, sie würden mich nicht wiedererkennen.
Ich ertrage es nicht mehr
Mein Kampf
zu lesen, ich möchte das Buch gern loswerden und nicht mehr mit nach Frankreich nehmen. Ich kann mit niemandem hier darüber reden, will auch nicht damit über die Grenze fahren, und Simon zeigt nicht das Interesse, das ich erhofft hatte. Er stellt keine einzige Frage, reagiert auf keine der Passagen, die ich für ihn abgeschrieben habe. Dabei habe ich gewissenhaft einige Randepisoden des Buches geschildert, ich habe Simon gesagt, dass Hitler mit dreizehn den Vater verlor und mit fünfzehn auch noch die Mutter, ich habe es nicht kommentiert und mich gefragt, ob die schrecklichen Ereignissen, die folgten, etwas damit zu tun gehabt haben könnten. Natürlich hätte ich mit Simon diese Frage gern diskutiert, gestehe aber, dass sie so abwegig ist, dass man ihr lieber ausweicht. Ich habe Simon berichtet, dass Hitler sich ständig auf die Begriffe »Moral« und »Würde« berief, als wäre er deren alleiniger Verwahrer, womit er natürlich erreichen wollte, dass wir mehr auf seine Worte achten, als über sein Tun urteilen. Ich habe ihm erzählt, dass Hitler keinen Hehl daraus machte, wie er sich seine geplanten Propagandamaßnahmen vorstellte, wie er die Macht der Zeitungen beschwor, die schnell bereit waren, die Massen zu manipulieren, was er von Reden hielt, effizienter als jedes geschriebene Wort, und wie er Bücher und Literatur beurteilte, die sich seiner Meinung nach nur an die »Einfaltspinsel und Dummköpfe der intellektuellen Klassen« richten. Ich dachte, dass Simon, der davon träumt, Journalist zu werden, auf solche Informationen erpicht wäre. Ich habe ihm auch geschildert, was Hitler alles in die Wege leiten wollte, um das gute Funktionieren des von ihm geplanten »Rassenstaats« zu gewährleisten, in welcher Form er das Bildungswesen und die Lehrpläne reformieren wollte, um seine »Unterrichtsprinzipien« einzuführen. Ich habe Simon erzählt, warum Hitler die Lehrpläne als zu schwerfällig und die Anzahl der Unterrichtsfächer als zu wichtig erachtete. Hitler schlug vor, dass man dem Erlernen von Fremdsprachen weniger Gewicht gibt, den Geschichtsunterricht modifiziert und das Fach Staatsbürgerkunde in »Vaterlandskunde« umtauft. Ich habe ihm auch berichtet, wie Hitler seine langsame »Bekehrung« zum Antisemitismus schildert. Aber Simon scheint nicht darauf zu reagieren, ich glaube, dass sich sein Leben woanders abspielt. Es fällt mir schwer zu begreifen, warum ich offenbar die Einzige bin, die in diesem Buch etwas sucht. Ich glaube, dass niemand Bescheid wissen will, ganz so, als gehörte die Bedrohung durch den Faschismus der Vergangenheit an. Ich lege
Mein Kampf
ganz unten in meinen Koffer, und obschon ich keines der Worte vergessen kann, die ich Abend für Abend entschlüsselt habe, nehme ich mir vor, vorläufig an andere Dinge zu
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