Das Fremde Mädchen
Gras gesäumt, wie es die Hauptstraßen des Königs sind, und dort konnte ein verkrüppelter Mann leicht laufen. Die ersten ein oder zwei Meilen mochten sie ohne Schwierigkeiten bewältigen, aber dann würden die Mühen beginnen. Seinem Urteil blieb es überlassen, wann sie eine Rast einlegen mußten, denn Haluin würde nur die Zähne zusammenbeißen und bis zum Umfallen weiterlaufen. Irgendwo in der Nähe des Wrekin würden sie ein Nachtlager finden, denn unter den Siedlern dort gab es einige Pächter der Abtei, und in jeder Hütte am Weg konnten sie für eine mittägliche Rast ein warmes Plätzchen am Feuer finden.
Essen hatten sie genug, denn Cadfael trug einen gefüllten Ranzen.
Hoffnungsfroh am Morgen aufgebrochen, Haluin voller Energie und Begierde, legten sie zunächst ein gutes Tempo vor, um mittags angenehm beim Gemeindepriester von Attingham zu rasten. Am Nachmittag jedoch wurden sie langsamer, und Haluins bebenden Schultern waren die Mühen anzusehen. Die Knochen schmerzten bei jedem Schritt mit den Krücken, und als die Abendkälte kam, wurden seine Finger trotz der wollenen Polster auf den Griffen taub. Cadfael entschied sich anzuhalten, sobald das Tageslicht im windlosen Märzgrau zu verblassen begann, und wandte sich zum Dorf Uppington, um im Landgut ein Lager für die Nacht zu erbitten.
Haluin hatte verständlicherweise die ganze Zeit auf der Straße geschwiegen, denn er brauchte seinen ganzen Atem und seine ganze Entschlossenheit für die Anstrengungen des Laufens. Als sie am Abend gegessen hatten und ruhten, betrachtete er eine Weile Cadfael, der in gelassenem Schweigen neben ihm saß.
»Bruder«, begann er schließlich, »ich bin Euch dankbar, daß Ihr mich auf dieser Reise begleitet. Mit keinem anderen als Euch könnte ich ohne Vorbehalte über diesen alten Kummer sprechen, und bevor wir Shrewsbury erreichen, könnte es für mich bitter notwendig sein, darüber zu reden. Das Schlimmste wißt Ihr bereits, und ich will kein Wort der Entschuldigung sagen. Aber in den achtzehn Jahren habe ich nie mehr ihren Namen laut ausgesprochen, und wenn ich ihn jetzt sage, dann ist er mir wie das Essen einem Verhungernden.«
»Sprecht oder schweigt, wie es Euch gefällt«, gab Cadfael zurück, »und ich werde, wie Ihr es wünscht, hören oder taub sein. Heute nacht aber sollt Ihr Ruhe finden, denn wir haben schon ein Drittel des Weges geschafft. Ich muß Euch aber warnen, nachdem Ihr Euch heute so angestrengt habt, werden morgen Schmerzen kommen, wie Ihr sie noch nicht erlebt habt.«
»Ich bin müde«, räumte Haluin mit einem knappen, seltenen und berührenden Lächeln ein, das so kurz wie süß war. »Dann glaubt Ihr nicht, daß wir Hales morgen schon erreichen werden?«
»Auf keinen Fall! Nein, wir werden bis zu den Augustinern in Wombridge gehen und dort die nächste Nacht verbringen. Ihr habt Euch bisher wacker geschlagen, also laßt Euch nicht durch den einen Tag verdrießen.«
»Wie Ihr meint«, sagte Haluin nachgiebig und legte sich mit der zutraulichen Einfachheit eines Kindes zum Schlaf, das sich durch seine Gebete geschützt und geborgen weiß.
Der nächste Tag war nicht ganz so erfreulich, denn es fiel ein dünner, sporadischer Regen, der sie manchmal sogar mit Hagelkörnern stach, und aus Nordosten wehte ein kälterer Wind, als ihnen der lange, grüne und zackige Rücken des Wrekin keinen Schutz mehr geben konnte, nachdem die Straße sich nach Norden gewandt hatte. Zwar erreichten sie vor der Dämmerung die Priorei, doch Haluins Lippen waren, als sie eintrafen, fest zusammengepreßt. Die Haut über seinen Wangenknochen war bleiern und vor Anstrengung straff gespannt, und Cadfael war froh, als er ihn in einen warmen Raum bekam, wo er mit eingeölten Händen die Sehnen in Armen und Schultern und die Schenkel bearbeiten konnte, die Haluin den Tag über so brav getragen hatten.
Am frühen Nachmittag des dritten Tages trafen sie in Hales ein.
Das Gutshaus lag ein Stück von Dorf und Kirche entfernt. Es war auf einem Steinfundament aus Holz gebaut und lag von ebenen, gut bewässerten Feldern umgeben zwischen sanften, bewaldeten Hängen. Stall, Scheune und Backhaus innerhalb des Holzzaunes waren gut unterhalten und sauber. Bruder Haluin blieb im offenen Tor stehen und betrachtete gebannt und mit unbewegtem Gesicht den Ort, an dem er einst gedient hatte. Nur seine Augen waren lebendig und verrieten seine Schmerzen.
»Vier Jahre«, sagte er, »diente ich hier als Schreiber.
Bertrand de Clary war
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