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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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sieht ihr nach, bis sie verschwunden ist und es nichts weiter zu sehen gibt als die Frau, die durch Glas gehen kann. Verhalten gähnend streckt sie abwechselnd ihre Arme und Beine durch die Scheibe und winkt Ghostboy zu. Ghostboy winkt nicht zurück und schließt schnell seine Tür.
    *
    Außer Ghostboy hält Martha nichts im Zirkus. Sie fasst dort nicht Fuß, anders als Merwin und Corwin gehofft haben, etabliert sie sich auch nicht als die große Attraktion. Als wäre der grüne Mann, der mit jedem sonnigen Tag weniger grün und eine entschiedene Nuance gelber aussieht, nicht schon Sorge genug. Martha, das Medium, gibt nichts auf Effekte. Ihre Sitzungen sind unspektakulär, oft unbefriedigend. Wenn die Brüder sie zur Rede stellen, zuckt sie die Achseln und erklärt, es nun einmal nicht anders gelernt zu haben. Die anerkannten Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf Showelemente verzichten: je sachlicher, je nüchterner, desto glaubwürdiger.
    »Wenn ich nichts sehe, sehe ich nichts«, erklärt Martha Corwin, und Corwin nickt, als würde er verstehen, und vielleicht versteht er auch, doch mehr noch, als dass er Martha versteht, versteht er den Zirkus und wie der funktioniert. Während Martha von Energien und Schwingungen spricht, denkt Corwin an Einnahmen und Publikumserwartungen.
    »Energien sieht keiner. Karten aber jeder«, weist er Martha auf das Offensichtliche hin.
    Also legt Martha, die nichts weiß und versteht von Karten, Karten. Sie breitet sie aus und gibt vor, sich in die bunten Bilder zu vertiefen. Tatsächlich schaut sie weiter ins Nichts und lauscht und sucht und wartet. Doch weder Karten noch duftender Rauch ändern etwas an dem alten Problem: Oft bleibt es still. Oft hört Martha nichts. Oft sieht sie nichts. Und genau das teilt sie den erwartungsvollen Kunden mit.
    »Nichts«, sagt sie. »Leider. Wirklich, überhaupt nichts.«
    Bis Corwin sie ein weiteres Mal zur Rede stellt. Es sei eine gute Idee, schlägt er vor, wenn sie das »Nichts« für sich behalten würde.
    Aber wenn es nun einmal nichts zu sagen gebe?
    Nun, dann solle sie sich eben etwas ausdenken.
    Etwas ausdenken? Aber Martha hat sich doch noch nie etwas ausgedacht. Ratlos sitzt sie im schummrigen Licht vor Karten und Kugeln und schaut in erwartungsvolle Gesichter. Auf Corwins Anraten hin formuliert sie vage: »In den nächsten Wochen wird Ihnen etwas Gutes passieren.« Oder: »In den nächsten Wochen wird etwas Gutes und etwas Schlechtes passieren.« Bisweilen lässt sie sich hinreißen und gesteht: »In den nächsten Wochen wird Ihnen vermutlich etwas Schlechtes passieren. Möglich, dass jemand stirbt.«
    Als Corwin von ihren düsteren Zukunftsprognosen erfährt, nimmt er sie erneut beiseite. »Denkst du, jemand, der gerade erfahren hat, dass seine Liebsten in Kürze sterben werden, wird sich noch eine Vorstellung ansehen wollen? Oder Zuckerwatte kaufen? Oder mit dem Riesenrad fahren?«
    Wahrscheinlich nicht. Aber Martha interessiert sich nun einmal nicht für die Leute und ihre Zuckerwatte. Martha interessiert sich nur für Ghostboy. Und Ghostboy macht es ihr auch weiterhin nicht leicht. Er geht ihr aus dem Weg, versteckt sich hinter Zelten und Wagen, bisweilen auch hinter dem Schießbudenstand. Jeder Tag, der verstreicht, ohne dass sie ihn gesehen, ohne dass sie mit ihm gesprochen hat, liegt ihr schwer auf den Schultern. Es häufen sich die Stunden, in denen sie vor ihren Karten sitzt und sich fragt, wie sie an diesen Ort geraten ist, an dem sie beginnt, sich selbst zu verlieren. Sie denkt oft an ihre Stadt, ihre Freunde, die Katzen, die sie zurückgelassen hat. Manchmal glaubt sie, die Tiere auf leichten Pfoten durch den Wagen schleichen zu hören.
    Immer länger bleibt sie morgens liegen. Über Stunden tut sie nichts weiter, als gemächlich die Lider zu senken und wieder zu öffnen. Erst im Laufe des Nachmittags weicht die matte Schwere der gewohnten flirrenden Ungeduld.
    Er wird kommen, versichert sie sich abends, wenn sie in ihrem schmalen Bett liegt. Er wird, flüstert sie und lauscht auf die Fremde, die wie ein aufgewühltes Meer gegen die Bettpfosten schwappt.
    Und er kommt.
    An jenem Abend liegt etwas in der Luft, nicht nur Martha kann es spüren. Zwischen den Zelten flackert eine gewittrige Unruhe. Weil Martha zwar um den bewegten Nachthimmel weiß, aber nicht um die Unruhe in Ghostboy, hat sie ihren schwarzen, großen Koffer unter dem Bett hervorgezogen, über das glatte Leder gestrichen, eine Sekunde innegehalten

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