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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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geschieht, geschieht von selbst. Nach zwei, drei Minuten kommt der dunkle Moment über ihn, und so sicher, wie die Dunkelheit ihn flutet, so sicher verebbt sie auch wieder. Wenn Ghostboy dann auf der Bühne steht, lacht und sich verbeugt, ist es ein großes Glück, dass keiner der misstrauischeren Zuschauer seinen Puls fühlen will. Denn noch immer gäbe es nichts zu erspüren – während Ghostboy selbst in Bewegung ist, tanzt und singt und geht und springt, steht sein Herz noch immer still.
    *
    Als es an seiner Tür klopft, rührt Ghostboy sich nicht. In den letzten Jahren hat er sich angewöhnt, grundsätzlich nie an die Tür zu gehen – außer, wenn er sicher sein kann, dass es Merwin ist, der davor steht. Aus Erfahrung weiß er, dass die meisten nach dem zweiten, spätestens dem dritten Klopfen wieder ihrer Wege ziehen.
    Heute nicht.
    Es klopft ein viertes, ein fünftes und sechstes Mal. Und schon an der schnellen Abfolge, dem ungehaltenen Takt erkennt Ghostboy, dass der lästige Besucher keinerlei Absicht hat, wieder zu gehen. Er steht auf, schlurft durch den Wagen und bleibt dicht vor der Tür stehen. Als sickere ein Geruch oder vielmehr ein Gefühl durch das Holz, weiß er plötzlich, dass Martha auf der anderen Seite steht. Gerade beschließt er, ihr nicht zu öffnen, sich ins Bett zu legen, den Kopf unter dem Kissen zu verstecken, da drückt seine Hand bereits die Klinke herunter, der Arm zieht die Tür zu sich heran, und Ghostboy blinzelt ins Sonnenlicht. Unmittelbar auf dem Rasen vor seinem Wagen sieht er zunächst nur die Frau, die durch Glas gehen kann. Von Ghostboys Protesten unbeeindruckt hat sie diesen Ort ausgewählt, um Tag für Tag ihre Übungsscheibe aufzubauen. Erst auf den zweiten Blick bemerkt er Martha. Obwohl es ein warmer Herbsttag ist, trägt sie ihr schwarzes, hochgeschlossenes Kleid, dessen lange Ärmel bis zu den Handgelenken reichen und genau wie der Kragen ganz zugeknöpft sind.
    Noch bevor Ghostboy die Tür wieder schließen kann, hebt sie die Hand. »Halt«, sagt sie.
    Und Ghostboy hält. Er hält ein und inne, fühlt, wie sein Körper, seine Gedanken sich in einen Gehorsam fügen, den Ghostboy so nicht kennt, den er niemandem, nicht Corwin, nicht einmal Merwin gegenüber je verspürt hat – es muss an ihrer tiefen Stimme liegen und wie sie die Worte behutsam fasst, gleich spitzen, nicht ungefährlichen Gegenständen.
    »Darf ich?«, fragt Martha und setzt einen Fuß auf die erste Stufe des Treppchens.
    Ghostboy macht Anstalten, den Kopf zu schütteln, doch noch immer sieht er sich außerstande, Martha etwas abzuschlagen, noch immer fühlt er sich nicht ganz wie er selbst, sondern: fügsam. Er dreht sich um, lässt die Tür offen stehen und verschwindet im Wagen.
    Martha folgt ihm aus dem hellen Tageslicht ins Innere, und obwohl sie nicht viel erkennen dürfte, blinzelt sie nicht und kneift nicht die Augen zusammen. Sie schaut sich aufmerksam um, begutachtet das schmutzige Geschirr, den Staub in den Ecken, die fleckigen Sessel.
    »Hier wohnst du«, sagt sie.
    »Bloß vorübergehend«, antwortet Ghostboy ausweichend und legt so unauffällig wie möglich eine Decke über einen Haufen ungewaschener Kleidung.
    »Ich weiß, dass du mich nicht hierhaben willst«, sagt Martha.
    Ghostboy scharrt mit den Füßen. Er würde sie gern hinausschicken, hereinbitten, von vorne anfangen. Mit einem Mal ist ihm alles peinlich, er selbst ist sich peinlich, der heruntergekommene Wagen, wie er vor dem Riesenrad vor ihr davongelaufen ist.
    »Ich verstehe nur nicht, warum«, fährt Martha fort. »Wir kennen uns nicht.« Prüfend mustert sie ihn, scheint auf Widerspruch oder Bestätigung zu warten. Ghostboy aber kann weder das eine noch das andere bieten. Beides erscheint ihm gleichermaßen unwahrscheinlich: dass sie einander kennen; dass sie einander nicht kennen. »Nein«, sagt er zögernd.
    »Du hast aber gewollt, dass ich komme«, behauptet sie. »Deswegen bin ich hier, weil du mich gerufen hast.«
    »Bestimmt nicht«, antwortet Ghostboy, und weil sie nicht aufhört, ihn anzustarren, fügt er mit lauter Stimme hinzu und so, als mache er einen Witz: »Das können doch nur die Toten.«
    Kaum, dass er die Worte ausgesprochen und den Ausdruck in ihren Augen gesehen hat, sieht Ghostboy beschämt zu Boden. Als er wieder aufschaut, hat sie sich bereits von ihm abgewandt, ist durch die Tür und aus dem Wagen getreten. Er folgt ihr, doch statt sie zurückzuhalten, bleibt er in der geöffneten Tür stehen. Er

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