Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
bekomme das Publikum einen zu sehen, der unvergleichlich, unbeschreiblich, außerordentlich sei. Die Zuschauer recken die Hälse, ein Mann schlurft auf die Bühne. Er scheint weder unvergleichlich, unbeschreiblich noch außerordentlich. Beschreiben etwa lässt er sich mit wenigen Worten: Er trägt einen dunklen, schäbigen Anzug, der ihn dürr und ungelenk aussehen lässt. Auf seinem Kopf sitzt ein verbeulter Hut.
Vermutlich zur allgemeinen Erheiterung führt Ghostboy einen kleinen Tanz auf, lüpft seinen Hut und schwenkt ihn ins Publikum. Niemand fühlt sich erheitert. Die Kinder winden sich auf ihren Stühlen, die Erwachsenen verschränken die Arme. Martha erinnert der steppende Ghostboy an jene Art von Clowns, vor denen sich Kinder fürchten und Erwachsene auch. Während sie noch in die Betrachtung von Ghostboys trostlosem Tanz versunken ist, schieben vier Männer einen gläsernen Kasten auf die Bühne. Zunächst nimmt sie nur einen Schatten wahr, etwas, über das sie nichts weiter wissen will, hinsehen aber muss sie doch. Es handelt sich um einen Tank, ein übermäßig großes Aquarium, randvoll mit Wasser; Fische aber sind keine zu sehen. Zwei der Männer befestigen eine Leiter an der Außenseite, treten zurück, prüfen und kontrollieren, geben sich Zeichen – Alles in Ordnung – und verlassen die Bühne, auf der sich nun nur noch der Tank und Ghostboy befinden.
Ghostboy steht still, den Kopf gesenkt. Er schreit nicht, kündigt nichts an, behauptet nichts und verspricht nichts. Anders als Corwin liegen ihm keine großen Inszenierungen.
Man flüstert, murmelt, fragt, was jetzt geschehen wird, oder weiß es bereits. Einige sind nicht zum ersten Mal hier, besuchen die Vorstellung wieder und wieder, weil sie nicht genug kriegen von Ghostboy. Während Bewegung in die Zuschauer kommt, steht Ghostboy noch immer still. Ungeduldige Rufe ertönen. Man hat keine unvergleichlichen, unbeschreiblichen, außerordentlichen Eintrittspreise bezahlt, um einem Mann dabei zuzusehen, wie er die Schultern hängen lässt und trübsinnig zu Boden schaut. Endlich gibt er sich einen Ruck und schlendert auf den Wassertank zu.
Bei dem Tank handelt es sich um eine Spezialanfertigung, die von Corwin und Merwin finanziert und nach Ghostboys genauen Anweisungen produziert wurde. Die skeptischeren unter den Zuschauern vermuten, Ghostboys Kunststück habe etwas mit der besonderen Machart des Tanks zu tun und dass bestimmte Tricks und Finten eingebaut worden seien. Tatsächlich gibt es keine Tricks, keine Spiegel, keine Tür im Boden, keinen Sauerstofftank. Das einzig Besondere an dem Tank ist, dass er seit Jahren in Ghostboys Träumen auftaucht, er ihn Nacht für Nacht vor sich gesehen und so seine Höhe, seine Breite genau hat bestimmen können.
Ghostboy legt erst eine Hand und dann die andere auf die Leiter, erklimmt Sprosse um Sprosse. Oben angekommen, schwingt er die Beine über den Rand, und das Wasser tränkt den Stoff seiner Hose. Eindringlich betrachtet er das Publikum und scheint in alle Augen zu schauen, auch in Marthas. Ohne ein weiteres Wort stößt er sich ab und taucht unter. Nun muss es schnell gehen: Zwei der Männer kommen zurück und ziehen mit langen Greifzangen eine Platte über den Tank. Ghostboy bleibt sicher verschlossen im Inneren zurück.
Als Ghostboy vor einigen Jahren seinen eigenen Auftritt bekam, ließ er sich während der ersten Vorstellungen gut fünf Minuten reglos im Tank treiben. Corwin und Merwin, die nicht halb so viel übers Sterben wussten wie Ghostboy, aber doppelt so viel übers Unterhalten, zwangen ihn bald, eine komplizierte Choreographie des Ertrinkens einzustudieren.
An diesem Abend trommelt Ghostboy gegen die Glaswände, rudert mit den Armen, steigt auf und gibt vor, den Deckel anheben zu wollen. Die Aufgeregteren im Publikum schreien bereits: »Holt ihn da raus, er ertrinkt doch!« Die Routinierten lassen bloß die Mundwinkel zucken und beugen sich ein Stück vor – sie wollen alles möglichst genau sehen. In ihren Augen liegt ein gieriger Glanz, ein entrücktes Glitzern. Sie wissen bereits, was jetzt geschieht. Ghostboy trommelt weiter, formt Worte, die der gemeine Zuschauer als »Hilfe, Hilfe« oder auch »Lasst mich raus!« auslegt. Tatsächlich, erkennt Martha, schimpft Ghostboy. Er beschimpft all jene, die ihn anstarren, schauen und staunen, die gekommen sind, um sich zu grausen. Ghostboy schimpft auf den Tank, auf das Wasser, auf das Zelt, auf Corwin und Merwin, die Luft, die Nacht,
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