Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
die Welt. Er nutzt die Zeit, die ihm noch bleibt, um sich seine Wut aus dem Leib zu schreien, doch werden seine Bewegungen bereits langsamer und unkoordinierter, bevor sie schließlich ganz erlahmen.
Ghostboy ertrinkt vor Marthas Augen, lässt das Wasser in sich hinein- und das Leben aus sich herauslaufen. Und während er sich letzten Zuckungen hingibt, läuft ein Zittern durch Martha. Niemand wundert sich, nicht die Familie auf der Bank neben und nicht der ältere Herr hinter ihr. Alle sind mit den Augen bei Ghostboy, der in diesem Moment aus dem Tank gezogen wird. Die Männer tragen ihn an seinen erschlafften Armen und Beinen die Leiter hinunter, zweimal droht der reglose Körper ihnen zu entgleiten.
Corwin betritt die Bühne. Er ist ruhig und guter Dinge. Im Publikum dagegen herrscht Verunsicherung: Ist man Zeuge eines Kunststücks oder Unfalls geworden, eines Spektakels oder furchtbaren Versehens?
Corwin ruft in die Zuschauermenge, fragt nach Freiwilligen, die zu ihm hinunter auf die Bühne kommen wollen. Marthas Hand hebt sich kaum merklich und viel zu spät. Statt Martha wird eine Frau aus der ersten Reihe auf die Bühne geholt. Corwin fordert sie auf, Ghostboys Puls zu kontrollieren. Die Frau nimmt, hält und fühlt: nichts.
»Nichts«, sagt die Frau.
Jetzt fordert Corwin sie auf, sich über Ghostboy zu beugen und an seinem Brustkorb zu horchen. Die Frau beugt sich vor, horcht und sieht auf … »Nichts«, sagt sie.
»Tot!«, ruft Corwin ins Publikum.
Manche flüstern entsetzt, andere lächeln unbeeindruckt. Die Frau verlässt die Bühne, ein Mann und ein Kind werden auf selbige gebeten, um die Diagnose zu bestätigen. Zu guter Letzt darf sich ein Reporter neben Ghostboy knien. Er untersucht Ghostboy besonders gründlich, schiebt seine Lider hoch, hält die flache Hand über seine leicht geöffneten Lippen und lässt sie eine Weile auf Ghostboys Brustkorb ruhen. Kopfschüttelnd verlässt er die Bühne. Corwin macht einige Späße, die Lichter werden gedimmt, und eine traurige Musik setzt ein. Die allgemeine Ratlosigkeit schlägt in Unzufriedenheit um. Man wartet, ohne zu wissen, auf was. Niemand glaubt, dass Ghostboy noch lebt. Niemand glaubt, dass er tot ist.
Martha betrachtet die Köpfe vor und unter sich. Ein Wald von Hüten und Schleifen und Haaren und Glatzen. Einige Kinder frösteln, vereinzelte Zuschauer fahren sich durchs Haar, als habe ihnen jemand über den Kopf gestrichen, und auch Martha meint, von etwas gestreift zu werden. Wie ein Windhauch, wie eine kühle Brise fegt es durch Martha, durch die Reihen der Zuschauer und bis auf die Bühne. Und Ghostboy öffnet die Augen. Langsam setzt er sich auf. Martha sieht, wie geklatscht wird, wie Menschen von ihren Sitzen aufspringen, wie sich Münder öffnen. Martha sieht all das, aber sie hört nichts, fast nichts, bis auf eines: An der Grenze zwischen Schweigen und Laut, zwischen Stille und Ton, setzt Ghostboys Atmung ein.
*
Ghostboy, der sich ohnehin nur selten als tatsächlicher Mensch fühlt, verwandelt sich in Marthas Gegenwart in ein mechanisches Wesen. Wenn er ihr begegnet, scheint ihm sein Innerstes im Wechsel hohl und randvoll mit undurchschaubaren Apparaturen gefüllt. Dort, wo sein Herz schlagen sollte, stellt er sich ein Gewirr defekter Kabel vor, deren lose, funkensprühende Enden widersprüchliche Botschaften durch seinen Körper senden:
Er sollte Martha aus dem Weg gehen.
Er sollte sich in ihrer Nähe aufhalten.
Er hat so lange befürchtet, dass sie kommen wird.
Er hat so lange gehofft, dass sie kommen wird.
Weil Ghostboy das eine Gefühl so sehr verunsichert wie das andere, beschließt er, einen Bogen um Martha zu machen – nur scheint das Gelände nicht groß genug für sie beide. Er trifft sie im Zelt, wo sie auf der Tribüne sitzt, am Zuckerwattestand, wo sie sich mit dem grünen Mann unterhält; in den dunklen Ecken sieht er sie und in den Schatten zwischen den Wagen. Jeden Abend wartet sie neben dem Riesenrad auf ihn.
Gegen ihre Anwesenheit kann Ghostboy nichts ausrichten, doch überzeugt er die Brüder, ihr zu verbieten, zu den Vorstellungen zu kommen.
»Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn sie im Zelt ist«, behauptet er.
Da Corwin und Merwin Ghostboys einziges Kunststück noch immer nicht durchschaut haben, willigen sie ein. Die Folgen mangelnder Konzentration, vermuten sie, könnten fatal sein.
Tatsächlich braucht Ghostboy keine Konzentration, um den einzigen Trick, den er beherrscht, vorzuführen. Was
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