Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Corwin alles erklären. Aber jetzt musst du mit mir kommen. Bitte.«
Langsam steht Ghostboy auf – weil er weiß, dass Martha sich nie grundlos vor etwas fürchtet, ihre Vorahnungen nichts zu tun haben mit dem wenig verlässlichen Bauchgefühl anderer Menschen; weil ihm nichts anderes übrig bleibt, Martha sich von ihrem Entschluss nicht wird abbringen lassen. Vielleicht und vor allem aber fügt Ghostboy sich aus einem anderen Grund: Noch während er sich seinen Pullover, seinen Wintermantel und seine Stiefel überzieht, weiß er, dass er den Zirkus nicht verlassen wird. Es ist nicht möglich, ist ausgeschlossen, dass sich ein Leben – sein Leben – innerhalb einer Nacht und ein für alle Mal ändern soll. Es ist nicht möglich, dass Ghostboy nach all den Jahren und ohne dass jemand davon weiß den Zirkus verlässt.
Draußen auf dem Platz ist es still. In einigen Wagen brennt noch Licht, doch die meisten Artisten schlafen bereits. Der Schnee schluckt alle Laute, gibt lediglich ein verhaltenes Knirschen frei, während Martha und Ghostboy vorbei am Riesenrad laufen, am Schießbudenstand und am großen Zelt. Und die Stille, die unermüdlich hinabstürzenden Schneeflocken, der Umstand, dass Ghostboy sich zu dieser Zeit an diesem Ort befindet, das alles fügt sich zusammen, nicht zu einem tatsächlichen Ereignis, sondern zu einer Art Traum. Nichts hiervon, denkt er, geschieht tatsächlich.
Die Straßen Perns sind verlassen, und keines der Fenster ist erleuchtet. Sie laufen schweigend über den Schnee, so als könnte schon ein einziges Wort das Vorhaben aus dem Gleichgewicht bringen und einstürzen lassen. Blaue Schilder weisen den Weg zu dem Bahnhof, der sich bei ihrer Ankunft als verlassener Bahnsteig mit zwei Gleisen entpuppt. Neben einer vereinzelten Bank stehen ein rostiger Lautsprecher und eine Uhr. Ihre goldenen Zeiger deuten beide auf die Zwölf, unter dem Glas müssen sie festgefroren sein.
Ghostboy deutet auf ein heruntergekommenes Gebäude, nicht mehr als ein Kasten, mit eingeschlagenen Fenstern und einer lose in den Angeln hängenden Tür.
»Wollen wir uns unterstellen?«, fragt er.
Martha schüttelt den Kopf. »Er muss jede Sekunde kommen«, sagt sie.
Obwohl Ghostboy und Martha dicht zusammenrücken, durchdringt die Kälte schon bald ihre Mäntel, sämtliche Lagen und wollenen Schichten ihrer Kleidung.
Fünf Minuten verstreichen, dann zehn. Kein Licht, kein Rattern, nicht einmal ein Zittern der Gleise kündet von einem Zug. Martha beginnt, auf und ab zu laufen, vorbei an der Bank, dem Lautsprecher und der Uhr und wieder zurück zu Ghostboy. Auch Ghostboy macht ihre Unruhe unruhig; er schaut ihr zu, wie sie sich über den Bahnsteig hinaus auf das Gleis lehnt, in die Nacht späht, bevor sie weitereilt, zurück zum Gleisende. Als sie das nächste Mal an ihm vorbeilaufen will, stellt er sich ihr in den Weg. Sie spannt die Arme an, als wolle sie ihn zur Seite stoßen, dann tritt sie näher an ihn heran, lehnt die Stirn gegen seine.
Während sie stehen und warten, stellt Ghostboy sich vor, wie der Schnee sich Schicht um Schicht auf ihnen ablegt, einen weißen Hügel über ihnen und um sie herum errichtet und sie zu seinem verborgenen Zentrum, seinem Geheimnis macht.
Ein Scheppern lässt sie auseinanderfahren. Es kommt nicht von den Gleisen, nicht aus der Dunkelheit, sondern von dem Lautsprecher, der sich zu räuspern scheint, bevor eine Stimme erklingt, metallen und verzerrt. Durch das Klackern und Rauschen kann Ghostboy keine Sätze oder auch nur Worte verstehen, Martha hingegen lauscht aufmerksam. Erst nach Ende der Durchsage sackt sie in sich zusammen, so unvermittelt, als hätte eine unsichtbare Hand ihr das Rückgrat durch den Schädel aus dem Körper gezogen. Ghostboy kniet sich neben sie in den Schnee.
Martha hat ihre behandschuhten Finger auf die Augen gelegt und spricht undeutlich und leise zwischen ihren Händen hindurch.
»Alle Züge fallen aus«, sagt sie.
*
Schnell spricht sich herum, Martha sei aus den Fugen geraten. Seit ihrer Rückkehr in den Zirkus hat sie sich zurückgezogen, meidet Ghostboy, Merwin und Corwin und die anderen Artisten. Auch die Beschwerden verärgerter Zirkusbesucher häufen sich: Martha schaue gar nicht in die Karten, sie starre in die Luft und berichte von brennenden Häusern, von sterbenden Kindern, von Krankheit und Krieg.
Nachdem Ghostboy Martha wiederholt abgepasst und vergeblich versucht hat, mit ihr zu sprechen, beobachtet er sie aus der Ferne. Meist
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