Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
sie rücken näher an den Tisch heran und lauschen ihm aufmerksam. Als er verstummt, lehnt sich der Dunkelhaarige zurück und breitet die Arme aus.
»Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass sie hier verschwinden. Wir wollen sie hier nicht haben. Der Schnee ist ihr Problem.«
Der Fabrikant antwortet, der Dunkelhaarige nickt.
»Ja, bis Ende der Woche. Dann schauen wir, was passiert, wenn er nicht in seinem Tank steckt.«
Das Schwarz ihrer Hüte quillt über die Ränder, greift um sich, überzieht den übrigen Raum und lässt auch Martha in völliger Finsternis zurück.
Als sie die Augen aufschlägt, blickt sie in besorgte und neugierige Gesichter. Man stellt Fragen. Ob alles in Ordnung sei. Ob man einen Arzt rufen solle. Man schwenkt Finger. Ob sie die erkennen könne. (Ja.) Und wie viele es seien. (Drei.)
Eine Frau hilft ihr, sich aufzurichten und führt sie zur nächsten Bank. Obwohl es Martha nun vorkommt, als habe sie nur wenige Sekunden auf dem Boden gelegen, hat das Publikum bis auf den Trupp Schaulustiger und Hilfsbereiter das Zelt bereits verlassen. Auch von Ghostboy und dem Fabrikanten fehlt jede Spur. Martha versichert den Umstehenden, dass es ihr gut gehe, dann bleibt sie auf der Bank sitzen und wartet. Erst als der Letzte das Zelt verlassen hat, steht sie auf.
Auf der Suche nach Ghostboy wird Martha von Merwin abgepasst. »Ghostboy ist in seinem Wagen. Er hat nach dir gefr-«
»Wir müssen fahren«, fällt Martha ihm ins Wort. »Morgen oder übermorgen. Am besten morgen.«
»Martha.« Merwin nimmt sie bei den Schultern und dreht sie in einem Halbkreis, sodass sie beide in das Schneegestöber hinausschauen. Den Tag über haben sich die Artisten darin abgewechselt, den Schnee beiseitezuschaufeln und den Platz weitgehend freizuhalten. Würden sie nicht alle drei, vier Stunden die Runde machen, könnte man nicht einmal vom Zelt zum Riesenrad laufen.
»Wir fahren«, sagt Merwin, jedes Wort betonend, »sobald es möglich ist.«
Martha schüttelt den Kopf. »Nein. Spätestens übermorgen. Wir können nicht in Pern bleiben.«
Merwin öffnet den Mund, um zu widersprechen, hält inne, als sei ihm ein Gedanke gekommen, und mustert Martha genau. »Hast du etwas gesehen, weißt du etwas?«
»Ja.« Sie hebt die Hand, bevor er weitere Fragen stellen kann. »Wir müssen fort«, sagt sie.
Merwin nickt langsam. »Ich spreche mit den anderen.«
Obwohl mehrere Männer mit vereinten Kräften an Ghostboys Wagen ziehen, lässt er sich kein Stück von der Stelle bewegen. Auch bei den anderen Wagen haben sie kein Glück: Die Räder wollen sich nicht in Bewegung setzen.
Etwas abseits steht Martha, die Arme verschränkt, die Lippen zusammengepresst. Seit Stunden schon, seitdem sie auf den Treppen im großen Zelt zu sich kam, friert Martha nicht mehr, fühlt sich wie im Fieber. Sie müsste nur die Hände in das pulvrige Weiß legen, um den Schnee zum Schmelzen zu bringen, denkt sie, doch als sie es tatsächlich tut, geschieht nichts.
Wenig später gibt Merwin das Zeichen zum Abbruch.
Kurz nach Mitternacht wird Ghostboy von Martha geweckt. Sie kniet auf dem Boden neben seinem Bett und rüttelt an seiner Schulter.
»Martha?«, fragt er ins Halbdunkel.
Martha antwortet nicht. Während Ghostboy sich langsam aufrichtet, knipst sie die Nachttischlampe an.
»Du musst aufstehen«, sagt sie.
Ghostboy reibt sich die Augen, blinzelt in der plötzlichen Helligkeit.
»Martha, ich verstehe nicht, was du …«, setzt er an, als Martha seine Decke mit einem Ruck zur Seite zieht.
»Wir müssen hier weg«, sagt sie. »Heute Nacht, jetzt gleich.«
»Aber Martha, wir können nicht einfach …«, Ghostboy tastet nach der Decke, »wir müssten erst mit Merwin reden … mit den anderen … und der Schnee, ich meine, wir könnten ohnehin nirgendwohin, und ich habe nicht einmal gepackt und ich –«
»Ich habe gepackt. Auch deine Sachen«, unterbricht sie ihn und rückt zur Seite. Hinter ihr, neben dem Esstisch, steht ihr Koffer.
»Aber wohin denn? Wohin sollen wir mitten in der Nacht gehen?«
»Zum Bahnhof. Wir fahren mit dem Nachtzug. Wenn wir …«
Ghostboy steht auf. »Du willst jetzt zum Bahnhof laufen?«
Martha nickt.
»Wir dürfen nicht hierbleiben. Lass uns aus Pern verschwinden. Heute Nacht. Bitte.« Sie verschränkt die Finger miteinander, presst die Handflächen gegeneinander. »Wir sprechen über alles, wenn wir im Zug sind. Lass uns in die Unterstadt fahren. Von dort können wir ein Telegramm schicken, Merwin und
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