Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
hinschaut, könnte das auch erkennen.
Unsere Unterschiede sind oberflächlich und bloß auf den ersten Eindruck vordergründig:
Ich bin groß und schlank und gerade.
Meine Schwester ist eher klein und weich und kurvig.
Ich habe dunkles Haar.
Meine Schwester färbt ihres blond.
Meine Schwester schminkt sich immer, ich mich nie.
Ich trage unauffällige Kleidung, bewege mich nie außerhalb des sicheren Farbspektrums: Grau, Dunkelblau, Schwarz. Meine Schwester interessiert sich sehr für Mode und ist immer nach ihr gekleidet.
Aber wir haben die gleichen Augen, die graublauen Augen meiner Mutter, wir haben die gleichen Münder, den schmalen, stets ein wenig verspannt wirkenden Mund meines Vaters. Wir haben die gleichen kleinen Ohren und die gleiche unauffällige Nase.
Vielleicht bemerkst du all das, und vielleicht bist du nicht überrascht, als du Nina siehst. Nina aber, Nina ist überrascht. Zwar kann ich ihre Augen hinter den dunklen Gläsern nicht erkennen, das Erstaunen aber höre ich ihr schon an der Stimme an. Sie plant Inszenierungen und Begrüßungen gern im Voraus. Sicher auch diese. Sie muss sich ausgemalt haben, wie ich, eine Peinlichkeit im Anzug hinter mir herziehend, im Garten auftauche, wie sie milde lächeln und verhalten sprechen würde.
Später am Nachmittag, als du meiner Mutter hilfst, Teller und Tassen und den Kuchen nach unten ins Gartenhäuschen zu tragen, wird Nina sagen, sie habe immer gedacht, ich würde einen meiner dickbäuchigen, zwanzig Jahre älteren Professoren heiraten und mich nur in Shakespeare-Zitaten mit ihm unterhalten.
Keiner meiner Professoren ist dickbäuchig, die meisten sind Frauen, wie Nina weiß. Aber sie lügt ja ohnehin, sie hat mich nie an der Seite eines dickbäuchigen Professors gesehen, sondern als alte Jungfer, eine abgespeckte Königin Victoria, in ewigem Schwarz. Und diese Möglichkeit, dieses Bild trage ich noch immer in mir, wie ein Polaroidfoto, das man an die Innenseite meines Schädels geheftet hat: Wir drei, Nina, meine Mutter und ich, wie wir wieder in Erlburg wohnen, wie man uns im Dorf die alten Schachteln nennt und wir schon bald gleich alt scheinen, sodass uns niemand mehr auseinanderhalten kann.
»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«, fragt Nina uns, als wir im Gartenhäuschen bei Kaffee und Kuchen sitzen.
Immer, wenn uns das jemand fragt, antworten wir mit einem ausweichenden Scherz, denn die tatsächliche Geschichte würde uns niemand glauben.
»Er ist einfach vom Himmel gefallen«, behaupte ich.
Nina rollt die Augen, weil sie es nicht ausstehen kann, wenn man sie nicht ernst nimmt.
»Genau so ist es gewesen«, stimmst du mir zu.
Später zeige ich dir mein altes Zimmer, das nie in ein Gäste- oder ein Arbeitszimmer umgewandelt wurde, sondern ein Raum mit unklarer Funktion ist. Im Haus meiner Großmutter gibt es mehrere solcher Räume. In den meisten – so auch in diesem – steht ein bedrohlich wirkender Schrank, in dem sich Kleider stapeln: die Kleider meiner Schwester, die Kleider meiner Mutter, die Kleider meiner Großmutter.
In einer Ecke befindet sich die alte Singer-Nähmaschine meiner Großmutter, in einer anderen Ecke steht ein billig gekauftes Schlafsofa, auf dem wir die Nacht verbringen werden. Und über dem Sofa –
»Was ist das?«, fragst du lachend.
»Ach das«, sage ich und mache eine abfällige Handbewegung, aber ich spüre schon, wie mir Farbe und Hitze ins Gesicht schießen.
»Habt ihr hier Gefangene gehalten?«, fragst du und trittst näher an die Wand. Dann fährst du vorsichtig über die Bleistiftstriche, Hunderte davon, ordentlich in Fünfergruppen gebündelt. Obwohl ich ja weiß, was es mit den Strichen auf sich hat, fühle auch ich mich an bärtige, verwahrloste Männer erinnert, die Wochen, Monate, Jahre ihrer Gefangenschaft dokumentieren und auf Rache sinnen.
»Das bin ich gewesen«, sage ich und reibe betreten meine Nase.
Du ziehst eine Augenbraue hoch, unsicher, ob du lachen darfst. »Wieso? Hat man dich hier eingesperrt?«
»Nein, das wohl nicht. Auch, wenn es mir damals schon so vorgekommen ist. Nachdem meine Eltern sich getrennt hatten und wir hierhergezogen waren, ist meine Mutter abends oft noch weggegangen und hat sich mit Freundinnen getroffen oder – im Nachhinein betrachtet, wahrscheinlich auch mit einem Mann – aber ich will sie nicht danach fragen, sonst erzählt sie es mir bestimmt. Meine Großeltern haben meine Schwester und mich ins Bett gebracht, und ich konnte nie einschlafen,
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