Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
mir Angst, denn ich weiß nun nicht mehr, worauf ich warte.
Die Geschichte des ersten Besuchs
Es wird noch einige Monate dauern, bis du mich deiner Mutter vorstellst. Es wird noch über ein Jahr vergehen, bis du mich mitnimmst in die norddeutsche Kleinstadt, welche berühmt für ihr Bier ist. Hier bist du zur Schule gegangen, und dort an dieser Ecke hast du dir den Arm gebrochen, und dort auf diesem Spielplatz hast du dich das erste Mal betrunken, nachts in einem Klettergerüst sitzend.
Die Fahrt an die Küste dauert viele Stunden, und ich lasse dich bei jeder Gelegenheit wissen, dass ich Angst davor habe, deine Heimat kennenzulernen, im Haus deiner Mutter zu Gast zu sein. Dir geht es anders. Du stellst viele Fragen, du willst alles über meine Familie wissen.
»Meine Mutter ist Künstlerin«, sage ich und spreche das Wort überbetont aus, damit du weißt, dass weder meine Schwester noch ich sie ernst nehmen.
»Und deine Schwester?«
Ich erzähle dir von Nina und dass ich uns lange in einem bestimmten Bild gedacht habe: auf einer Wippe sitzend; die Schwere – das war ich – immer unten, die Leichte – das war Nina – immer oben. Den Kopf in den Wolken schien mir meine Schwester leichtherzig und leichtsinnig zu flattern, während ich kroch oder gar nicht von der Stelle kam. Aber diese Vereinfachung, weiß ich, stimmt auch nicht recht, hakt und klemmt. Wenn ich dir heute etwas über meine Schwester erzählen sollte, müsste ich sagen, dass ich sie eigentlich nicht besonders gut kenne.
»Und dein Vater?«
Nun, mein Vater. Mein Vater ist – anders als deiner – nicht verschwunden. Ich weiß, wo er ist, auch wenn ich ihn nie besuche und selten anrufe, zu Weihnachten, zu seinem Geburtstag. Wir haben uns nicht viel zu sagen, und die wenigen Male, die wir uns getroffen haben, waren wir befangen, saßen schweigsam beieinander und stellten uns höfliche Fragen wie entfernte Bekannte.
Meine Eltern waren nie verheiratet, haben aber mehrere Jahre zusammengelebt. Ich war vier, meine Schwester zwei, als meine Mutter beschloss, wieder zu ihren Eltern zurück nach Erlburg zu ziehen. Meine Mutter verließ meinen Vater nicht einfach, sie vergaß ihn, wie einen sperrigen, wenig genutzten Gegenstand, den man ohnehin nur aus Gründen der Sentimentalität behalten hatte. Meiner Schwester und mir schien es damals, als sei dies auf eine geheime Absprache hin so geschehen, eine Absprache, die vielleicht nur aus einem kurzen Nicken, einer flüchtigen Umarmung bestanden hatte.
Meinen Eltern musste zu diesem Zeitpunkt längst klar geworden sein, dass weder sie noch die Leben, die sie führen wollten, zueinanderpassten. Meine Mutter wollte malen, durch die Welt reisen und in den Kleinstädten dieser Erde ihre Bilder in Turnhallen und auf Mittelaltermärkten zur Schau stellen. Was mein Vater wollte, weiß ich nicht. Aber ich habe mir auch nie viel Mühe gegeben, es herauszufinden. Ich glaube, dass er sich ein ruhiges, überschaubares Zimmer wünschte, in dem das gleichmäßige Ticken einer Uhr den Tag strukturiert, ohne dass tatsächlich Zeit zu vergehen scheint. Er wollte das Leben meines Onkels Paul.
Wenn ich mich an unseren Auszug erinnere, dann erinnere ich mich nie an das, was stattgefunden haben muss: einen großen Lieferwagen, Umzugskisten, unsere Kinderzimmer, die plötzlich leer und sehr klein waren, an das Chaos, die Anstrengung, schwere Männer, die schwere Geräte, eine Waschmaschine, einen Geschirrspüler, nach unten trugen.
Wenn ich mich an unseren Umzug erinnere, dann sehe ich bloß einen großen, kastenförmigen Mann, der auf unserer Wohnzimmercouch sitzt und auf die Stille wartet.
Du bist nie ein Mensch gewesen, der etwas einfordert, du hättest nie geradeheraus gefragt, wann du endlich meine Familie kennenlernen wirst. Aber es lässt dir auch keine Ruhe. Wenn meine Mutter oder meine Schwester mich anruft, dann horchst du stets auf. Nachdem ich den Hörer aufgelegt habe, bist du wachsam, schleichst um mich herum, als würdest du auf etwas warten, als sollte ich dir eine Frage stellen oder dir etwas mitteilen.
Eines Tages fragst du mich im Scherz, ob ich mich für dich schäme, und ich verstehe, dass der Scherz kein Scherz ist.
»Nein«, sage ich. Und: »Was ein Unsinn. Dann fahren wir eben nächstes Wochenende.«
Wenn ich einen Fehler gemacht habe, merke ich es immer erst dann, wenn der Zug bereits den Bahnhof verlässt. So auch dieses Mal. Flaches grünes Land füllt die untere Hälfte der Scheiben, als mir
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