Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
solange meine Mutter nicht nach Hause gekommen war. Ich habe mir vorgestellt, dass sie, während ich in meinem Bett liege, bei einem Unfall stirbt oder gerade die Stadt verlässt, um nie wieder zurückzukommen.«
An diesem Nachmittag kenne ich sie noch nicht, die Geschichte deines verschwundenen Vaters, und wie so oft, sehe ich bloß, dass sich etwas verschiebt, etwas verschließt in deinem Gesicht, ohne dass ich wüsste, warum.
»Bevor sie meinen Vater kennenlernte«, erzähle ich schnell weiter, » hat sie ein Jahr in den USA studiert. Und sie hat manchmal Witze gemacht, darüber gesprochen, wieder ›über den großen Teich zu verschwinden‹. Eigentlich habe ich ihr nicht geglaubt, aber dann, abends, wenn Nina schlief und ich schlafen sollte, habe ich es doch für möglich gehalten. Und je länger sie abends fortblieb, umso sicherer war ich, dass sie nicht zurückkommen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, nicht mehr warten zu müssen und dass die Nacht irgendwann aufhören würde. Und deswegen«, ich deute auf die Striche, »habe ich die Zeit geordnet. Für jede zehn Minuten einen Strich. Damals hing dort ein Poster, aber es war nur am oberen Rand mit Tesafilm festgemacht, und darunter habe ich die Striche gemalt. Irgendwann hat Nina davon Wind bekommen und es meiner Mutter erzählt. Es ist eine teure Tapete, und meine Großmutter war wütend auf mich, aber meine Mutter fand es lustig.« Ich fahre mit dem Zeigefinger über die Striche. »Trotzdem, ich dachte, das sei längst übermalt worden.«
Bevor wir den Raum verlassen, um wieder nach unten zu gehen, werfe ich noch einen Blick auf das Tableau meines Wartens. Ich denke an einen Stuhl in der Wohnung meiner Großtante und denke an die Nächte, hier in diesem Zimmer.
Später stehe ich mit meiner Mutter im Garten. Wir schauen hinunter auf den Bach. Von den kleinen Inseln, die ich und die anderen Kinder vor langer Zeit dort aus Steinen, Geröll und Ästen bauten, ist nichts mehr zu sehen.
Ich frage meine Mutter nicht nach dir, meine Mutter muss man nach nichts fragen. Wenn sie etwas zu sagen hat, dann sagt sie es; und sie sagt:
»Das ist einer, der sich fürchtet.«
Ich bin überrascht. Auch über die Art, wie sie es sagt. Sie spricht, wie eine Mutter über ihre Kinder, ihre Sorgenkinder sprechen würde, so, wie ich sie nie über mich habe sprechen hören.
Ich weiß nichts darauf zu entgegnen, und wir stehen noch eine Weile und schauen aufs Wasser.
Die Geschichte vom Stillhalten
Du fotografierst deine Nachbarn, Kommilitonen und meine Schwester, du fotografierst entfernte Verwandte deiner Mutter und ihre Nachbarn, du fotografierst, so scheint es mir, die halbe Welt, nur mich fotografierst du nicht. Es ist nichts, worüber ich mir Gedanken machen müsste, sage ich mir, denn was verstehe ich schon vom Fotografieren, was verstehe ich von deinen Bildergefängnissen und wer sich für sie eignet und wer nicht. Es gibt keinen Grund, sich Gedanken zu machen. Aber ich mache mir Gedanken. Und als du mich endlich fragst, ob du mich fotografieren darfst, bin ich erleichtert.
»Für meine Abschlussarbeit«, sagst du.
»Ja«, sage ich leichthin. »Können wir machen.«
Es ist das erste Mal, dass wir zusammen arbeiten, und im Geheimen denke ich mich bereits als deine Muse, denke, dass du mich mit neuen Augen sehen wirst, vielleicht beginnt mit unserer ersten gemeinsamen Sitzung eine neue Schaffensphase für dich, und du kannst deine kleinen, getackerten Menschen in ihren viel zu dunklen Zimmern hinter dir lassen.
Kaum, dass du deine Kameras, deine Objektive und Filter ausgepackt hast, beginne ich, mich unwohl zu fühlen. Während du mit den Kameras hantierst, rucke ich mit hochgezogenen Schultern auf meinem Drehstuhl hin und her. Wie immer, wenn du dich konzentrierst, wird dein Gesicht finster. Du drehst, richtest und justierst, und erst als du aufblickst und mich ansiehst, hellt sich deine Miene auf. »Das ist doch schon sehr gut!«, rufst du. »Jetzt nichts verändern. Mach einfach nichts.«
Nichts leichter als das, nichts leichter als nichts zu tun, denke ich und denke falsch: Schon nach wenigen Sekunden weiß ich, dass ich unmöglich in dieser Haltung werde bleiben können. Ich spanne alle Muskeln an, der Drehstuhl wird zum Drahtseil, und ich versuche die Balance zu halten, während ich darauf warte, dass du endlich mit dem Fotografieren anfängst.
Du bist ein langsamer, ein gründlicher Mensch. Du sprichst bedacht und handelst bedacht, und für
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