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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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gewöhnlich ist es genau diese Sorgfalt, die ich an dir schätze. Nur scheint sie mir in diesen Minuten wie absichtliche, grausame Umständlichkeit. Du sollst das Bild doch nicht malen, sondern aufnehmen. Wofür brauchst du so lange? Und warum bewegst du dich nur noch in Zeitlupe?
    »Du willst mich wohl auf die Folter spannen«, sage ich, weil ich unbedingt etwas sagen will. Als du verwundert den Kopf hebst, fällt mir auf, dass ich die Redewendung nicht richtig verwendet habe, du wirst mir ja nichts zeigen, nichts offenbaren. Gleichzeitig aber trifft es mein momentanes Befinden genau: Ich fühle mich auf die Folter gespannt.
    Wie kurz zuvor schon einmal, blickst du auf und siehst mich an, aber dieses Mal runzelst du unzufrieden die Stirn. »Nein, das ist irgendwie …«, sagst du, »das sieht irgendwie ganz unnatürlich aus so.«
    Ich versuche, mich zu entkrampfen, und verkrampfe dabei umso mehr, bis du mir befiehlst, auf der Stelle zu hüpfen, meine Arme und Beine auszuschütteln. Es hilft für einige Sekunden, aber kaum, dass ich wieder sitze, ziehen sich meine Muskeln zusammen, und ich muss die Fäuste ballen.
    So geht es den ganzen Vormittag, und bis in den Nachmittag hinein quälen wir uns gemeinsam durch die Stunden. Bei jedem missglückten Anlauf runzelst du die Stirn und musterst mich, als sei ich ein Kreuzworträtsel, in dem die Lösungswörter nicht passen, weil es zu viele oder zu wenig aber eben nie die richtige Anzahl an Kästchen gibt.
    Ich denke lange und ausgiebig über meine Körpertemperatur nach, denn während ich sitze und warte, scheint mir mein Inneres unnatürlich warm, mein Blut ist heiß, oder vielleicht sind es meine Muskeln, oder vielleicht steckt mir die Hitze auch in den Knochen. Bald prickelt und brennt es in den Haarwurzeln, den Fingerspitzen, und ich kann nicht einmal mehr zehn Sekunden still sitzen. Immer wieder soll ich hüpfen, soll ich springen, immer wieder hilft es, aber eben nur so lange, wie ich in Bewegung bin. Ich habe nicht gewusst, dass es so schwer sein kann, nichts zu tun, sich nicht zu bewegen; und ich erinnere mich an die Warnung, die meine Mutter schon vor vielen Jahren ausgesprochen hat, als ich noch ein Mädchen war und Bleistiftstriche auf die Wand meiner Großmutter malte und Nina schubste, wenn ich fand, dass sie zu lange brauchte, um sich den Anorak überzuziehen. »Marie«, sagte meine Mutter dann. »Die Wut und die Ungeduld, die werden noch dein Unglück sein.«
    Nun bin ich beides, wütend und ungeduldig. Mir will sich nicht erschließen, dass angeblich etwas passiert, während augenscheinlich nichts passiert, du bloß auf dem Boden hockst und mich anstarrst, als sei ich neu, als hättest du mich nicht schon hundert, schon tausend Mal gesehen. Unter deinem lupengenauen Blick fühle ich mich unwohl.
    Als mein linkes Augenlid zu zucken beginnt, stehst du auf.
    »Ich glaube, wir machen Schluss«, sagst du, und einen kurzen Moment bin ich erleichtert, weil ich denke, dass es dir irgendwie gelungen ist, mich zu einem brauchbaren Foto zu verarbeiten. Dann erst verstehe ich, dass du aufgibst. Hat mich zuvor jeder Nerv gejuckt und gereizt, bin ich ein einziges Zucken und Zappeln gewesen, falle ich nun in mich zusammen. Mehr Mehlsack als Mensch rutsche ich von dem Hocker und auf den Teppich. Du siehst weder verärgert noch enttäuscht aus, aber was bedeutet das schon, man sieht dir ja nie etwas an. Und auch das macht mich plötzlich wütend: dass du nie wütend bist.
    »Das dauert einfach viel zu –«, setze ich erbost an, als du dich neben mich auf den Boden setzt.
    »Einfangen kann man dich nicht«, sagst du und du lächelst, und ich verstehe, dass du all das schon vorher vermutet oder gewusst hast; und ich verstehe, warum du so lange gezögert hast, mich zu fotografieren.
    »Vielleicht«, sagst du, »müssen wir etwas anderes probieren.«
    Vor Schreck rücke ich von dir ab. Willst du mich nun zu einer weiteren Lockerungsübung, einem neuen Trick überreden: Ich soll mich an einer Pflanze oder einem Buch festhalten, ich soll mir vorstellen, dass ich laufe, ich soll mir vorstellen, du seist gar nicht da.
    »Ich will nicht …«, setze ich an, und du schüttelst den Kopf, ziehst mich hoch und mit zu deiner Kamera. Dort erklärst du mir, was zu tun ist, worauf ich achten muss, wie ich die verschiedenen Kameras zu bedienen und von welcher Position aus ich zu fotografieren habe. Du stellst dich neben den Hocker, auf dem ich bis eben gesessen habe, und dann hältst du

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