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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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einfällt, dass das Haus meiner Großeltern ein magischer Ort ist, der einen all das verstehen lässt, was man schon längst wissen müsste. (Ich denke an das Zimmer meines Onkels Paul.) Bereits beim Anblick der renovierungsbedürftigen Fassade wirst du ein eigenartiges Ziehen im Magen verspüren. Und wenn du über die Schwelle trittst, wird dich das große, klamm-kalte Haus ganz umfangen. Seine modrige Luft wird dir in die Lungen kriechen. Du wirst erschrocken blinzeln und mich ansehen und mich ganz sehen. Das wilde Kind mit dem wirren Haar, und wie ich als Mädchen auf den schweren, kühlen Kacheln im Flur spielte, und wie auch ich schwer und kühl sein kann, du wirst Pauls leeres Zimmer betreten und um die Einsamkeit und die Angst wissen, um die Jahre vor dir, du wirst meiner Mutter die Hand reichen und im selben Augenblick verstehen, warum sie mich ihr Sorgenkind nennt, du wirst etwas erkennen, in den Blicken, die meine Schwester mir zuwirft – ich weiß nicht, was es sein wird, aber ich fürchte mich davor. Und ich werde ausharren und warten und daran zweifeln müssen, ob du bleibst.
    Was wirst du über meine Mutter denken und über ihre apokalyptischen Bilder, und was über ihre sechs Katzen, die schwarz und aufdringlich sind, und was über meine Schwester, die von einer Liebe in die nächste fällt?
    Was wirst du über mich denken?
    Meine Mutter wohnt seit zwei Jahren wieder in Erlburg. Jahrelang hat sie beteuert, dass sie ein Stadtmensch sei und es sie schon immer in die großen Städte gezogen habe. Doch als der Verkauf ihres Elternhauses unmittelbar bevorstand, als bereits ein Käufer gefunden war und der Vertrag aufgesetzt, da überlegte sie es sich anders. Statt das Haus zu verkaufen, zog sie wieder ein.
    »Ich brauche Platz für meine Bilder. Ein Atelier, das kann ich mir in der Stadt ja gar nicht leisten«, erzählte sie uns, und weil man einen Streit mit meiner Mutter nicht gewinnen kann, widersprachen meine Schwester und ich nicht.
    Meine Mutter wartet vor der Haustür auf uns. Sie gibt vor, gerade den Briefkasten öffnen zu wollen, aber ich bin sicher, dass sie schon eine Weile dort steht und auf uns wartet. Weil sie weiß, dass ich mich schnell schäme, und diese Eigenschaft für eine Charakterschwäche hält, hat sie sich zurechtgemacht. Sie trägt einen Turban und eine Art Batikgewand. Ohne dass ich dich anschauen müsste, weiß ich, dass du keine Miene verziehst, als du ihr die Hand gibst, dass du ernst und feierlich blickst, dich noch immer zu geehrt fühlst, um irgendetwas hier lächerlich zu finden, nicht einmal das offensichtlich Lächerliche.
    Im Flur riecht es nach dem Katzenklo, das im Gäste-WC gleich neben der Eingangstür steht. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich darüber nach, deine Hand zu nehmen und aus dem Haus zu rennen, durch den ungepflegten Vorgarten, vorbei an der Frau mit dem Turban auf dem Kopf.
    Das Haus ist zu groß für dieses Jahrhundert, zu groß für diese Zeit. Nicht eine, sondern gleich drei Generationen hätten hier Platz. Nicht nur die Räume, auch die Möbel sind zu groß, sie sind wuchtig und dunkel und lassen vermuten, Riesen mit großen schwarzen Hunden hätten einmal hier gelebt. Tatsächlich sind es bloß meine schmächtigen, kleingewachsenen Großeltern gewesen.
    Wir gehen vorbei an der Schrankuhr, deren Ticken meinen Sekunden, deren Läuten meinen Stunden lange Zeit Halt und Form gab. Du trittst hinter mir in den großen Raum, der Wohn-, Esszimmer und Küche in einem ist. Als meine Großmutter noch lebte, war es hier stets makellos sauber. Ähnlich wie in einem Museum hatte man das Gefühl, durch bloßes Herumstehen und Atmen gegen eine Reihe von Regeln zu verstoßen. Nun lehnen Leinwände an den Schränken, auf dem Boden stapeln sich Zeitschriften und Bücher, vor allem Kartons, mit Aquarellfarben, mit Ölfarben, mit Cuttern, mit Einmachgläsern, in denen dunkle, faulig aussehende Flüssigkeiten schwappen. Auf der Esstheke finden sich weitere Einmachgläser. Pinsel weichen in trübem Wasser ein oder trocknen fest, weil die Flüssigkeit längst verdunstet ist und meine Mutter vergessen hat, sie herauszunehmen. Es ist nicht bloß unaufgeräumt; es ist schmutzig. Meine Mutter wohnt in einem staubigen, fleckigen, von Schlieren durchzogenen Chaos.
    Du setzt dich auf einen der Stühle vor der Esstheke, scheinst die bräunlichen Bananenschalen, die getrockneten Teebeutel, den Spitzerdreck, der sich überall in kleinen Häufchen ablagert, nicht zu

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