Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
still. So still, dass ich ein wenig Angst bekomme und ich gern zu dir hinlaufen würde, um zu prüfen, ob du noch atmest, ob dein Herz noch schlägt. Stattdessen drücke ich auf den Auslöser.
Irgendetwas scheint dir nicht zu passen, an den Fotos.
»Das hat aber nichts damit zu tun, dass du sie gemacht hast«, versicherst du mir. »Du hast das sehr gut gemacht, das hast du wirklich. Nur …«
Die Bilder liegen vor uns ausgebreitet auf deiner großen Arbeitsplatte. Die Aufnahmen liegen einige Tage zurück, in der Zwischenzeit hast du die Fotos verkleinert und ausgeschnitten, eine Reihe ernster, schmaler Männlein liegt vor uns. Und auf einmal gruselt es dich vor ihnen, und ohne dass du es mir erklären musst, verstehe ich, dass du es nicht über dich bringst, sie ins Haus deiner Großeltern zu setzen.
»Den«, sage ich und deute auf einen der zehn Jans. »Der hat mir gerade zugezwinkert. Den nehme ich lieber mit.«
Und so kommt es, dass ich dich in meinem Portemonnaie verstaue, einen etwa sieben Zentimeter großen Jan, den ich in schlechten Zeiten hervorhole und einen Moment in der geöffneten Hand halte.
Und so kommt es, dass ich dich immer bei mir trage, wie eine Voodoopuppe, nur dass ich ihr nie ein Haar krümmen würde, dass ich die Figur mit den blauen Turnschuhen und den ernsten Augen hüte wie eine Kostbarkeit.
Die siebte Geschichte:
Zwei Inseln
2. John William Waterhouse: Miranda – The Tempest (1916)
I
Es waren einmal zwei Brüder, und der eine hieß Kristian, und der andere hieß Thomas. Die Brüder stritten sich um alles, vor allem aber darum, wer der Stärkere sei, der Größere, der Schnellere, der Schlauere. Sie stritten im Haus und im Vorhof und in den Straßen des Küstenstädtchens Truven, in dem sie lebten. Sie stritten sich ihre gesamte Kindheit und Jugend hindurch, und als sie erwachsene Männer waren, verheiratet und bereits Väter, da stritten sie noch immer. Eines Sommers schließlich mündeten ihre Streitereien in einen Zwist, der sie endgültig entzweite.
Auslöser für den Streit war die gefährliche Küste Truvens, vor der bereits unzählige Schiffe gekentert waren. Die Brüder, welche zu den bedeutendsten Männern Truvens gehörten, setzten sich beide für den Bau eines Leuchtturms ein. Doch während Thomas darauf bestand, der Leuchtturm müsse auf der Insel Maas stehen, war Kristian überzeugt, die unmittelbar benachbarte Insel Thul sei weitaus besser geeignet. Beide Männer verfügten über genau gleich viel Geld, Starrsinn und Einfluss in Truven, und so kam es, dass sowohl auf Thul als auch auf Maas ein Leuchtturm gebaut wurde. Nun aber wollte sich kein Truvener bereit erklären, das Festland zu verlassen, und immer mehr Stimmen wurden laut, die forderten, einer der Brüder solle hinaus aufs Meer ziehen.
Einen ganzen Sommer lang stritten sich Kristian und Thomas darüber, wer von ihnen die undankbare Aufgabe zu übernehmen habe. Doch lange bevor eine Einigung hätte erreicht werden können, ereigneten sich zwei Unglücksfälle. Immer wenn die Brüder miteinander stritten, zappelten ihnen die Herzen wie Fische in der Brust, und in der Nachmittagshitze eines der letzten Sommertage trug es sich schließlich zu, dass jene Herzen wie auf einen geheimen Befehl hin mit dem Zappeln und Schlagen aufhörten und ein für alle Mal stillstanden.
Kristian hinterließ einen Leuchtturm, eine Witwe und eine Tochter, die den Namen Esther trug.
Thomas hinterließ einen Leuchtturm, eine Witwe und eine Tochter, die den Namen Klara trug.
*
Esther wird in Truven geboren. Hier ist sie jung, hier wird sie älter, hier hat sie alles, was sie braucht. Im Hafen küsst sie heimlich einen Seefahrer und trifft ihn heimlich wieder, obwohl die Mutter sie vor Fischern und Seefahrern gewarnt hat. Den Rat der Mutter schlägt Esther in den Wind und heiratet ihren Seefahrer schon im Jahr darauf. Sie ziehen in ein Haus, das klein, schief und grau ist. Obwohl es keinen Garten hat, sondern bloß einen steinigen Hof voller Möwen, ist Esther zufrieden. »Es gibt nichts, was ich ändern würde«, sagt sie manchmal und spricht nicht ganz die Wahrheit, denn wenn es nach ihr ginge, dann führe der Seefahrer nicht mehr zur See. Ob er nicht Zimmermann werden könne, fragt sie ihn oft, oder Metzger oder Bäcker?
Doch der Seefahrer liebt nun einmal die See und nicht das Holz und nicht die Kühe und nicht den Teig.
Als Esther ein Kind namens Jonathan zur Welt bringt, da kommen zu ihren alten Sorgen noch hundert neue
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