Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
hinzu. Sie sorgt sich nicht länger nur um den Mann und sich selbst, vor allem sorgt sie sich nun um das Kind. Es schläft wenig und trinkt wenig, es ist nur wenig Mensch: Leicht und klein liegt es in ihren Armen. Bloß in seinem Schreien ist es ganz da. Über Stunden brüllt es sein Unglück in das schiefe, graue Haus. Beruhigen lässt es sich nur, wenn Esther es durch den Flur, die Küche, die Wohnstube trägt.
In den Nächten, wenn der Seefahrer nicht bei ihr ist, tastet und drängt die Dunkelheit mit samtigen Handschuhen gegen die Fensterscheiben. Dunkelheit ist auch Größe, denkt Esther. In ihr weiß man nichts von Enden und Kanten und Grenzen. In der finsteren Weite jenseits der Fenster droht der Seefahrer so leicht verloren zu gehen wie eine einzelne Muschel oder ein Sandkorn.
Manchmal, wenn man etwas fürchtet, fürchtet man es versehentlich herbei, und eines Nachts, als Esther, das Kind auf dem Arm, schlaflos durch das Haus wandert, kentert unweit der Küste ein Schiff.
Am nächsten Morgen schickt man zwei Fischer aus, Esther die Nachricht vom Tod des Seefahrers zu überbringen.
Esther, die nichts geahnt hat, nichts gespürt, keinen unerklärlichen Anflug von Kälte, keine aufbrandende Schwärze, Esther dreht den Fischern den Rücken zu, geht in ihr Schlafzimmer hinauf und legt sich in ihr Bett. An diesem Tag und an jenen, die folgen, spricht sie kein Wort. Bringt man ihr Suppe, Brot oder Wasser und bittet man sie, das Bett, das Zimmer, das Haus zu verlassen, dann schüttelt sie den Kopf.
Bald schon ziehen sich die Bekannten, die Nachbarn, die Freunde zurück. Nur Esthers Cousine Klara bleibt Tag und Nacht an ihrem Bett sitzen. Während der langen Abende liest sie ihr die Geschichten vor, die sie schon als Kinder von den Müttern erzählt bekamen. Es war einmal ein Fischerdorf, in dem die Fischer verschwanden, es war einmal eine Prinzessin, die lieber ein Ritter sein wollte, ein Schiff, das die Verstorbenen ins Reich der Toten brachte.
Tagsüber kümmert sich Klara um Esthers Sohn, trägt ihn durch das Zimmer, flüstert ihm ins Ohr, wiegt ihn und streicht ihm über den Kopf. In der siebten Woche aber muss sie das kleine Haus, die trauernde Cousine und den schreienden Jonathan verlassen, um ihr eigenes Kind zur Welt zu bringen. In der Küstenstadt schließlich ist es nicht anders als überall sonst auf der Welt: Ein Leben geht zu Ende, ein anderes beginnt.
Als der Seefahrer nicht zu Esther zurückkehrte, da fiel sie aus dem Leben in die Trauer, und die umgab sie wie ein Kokon aus dichten Spinnweben. Die Welt außerhalb wurde dumpf und düster: Kein Wort, kein Bild, kein Geruch konnte die wattigen Wände durchdringen.
Als Klara das Haus verlässt und niemand mehr an Jonathans Wiege eilt, ihn niemand mehr umherträgt, wenn er weint, da dauert es nicht lange, bis seine Schreie das dichte Kokongewebe durchschneiden. Esther öffnet die Augen und blinzelt. Das Schreien erkennt sie wieder, doch sie selbst ist sich fremd, genau wie der Raum, in dem sie sich befindet. Die Nächte, in denen sie den Sohn durch das Haus trug, die Abende, die der Seefahrer zu ihr zurückkehrte, die Morgen, an denen sie gemeinsam aufwachten, sind ihr weniger Erinnerung denn Traum. Hat sie den Seefahrer je tatsächlich geküsst? Haben sie gemeinsame Jahre verlebt?
In dieser Nacht trägt sie Jonathan durch das Haus, so wie sie es auch vor dem Tod des Seefahrers getan hatte: durch das Schlafzimmer, die schmale Treppe hinunter, in die Küche und weiter in die Wohnstube. Im Flur angekommen, bleibt sie stehen. Über den Kopf ihres Kindes hinweg hat sie sich im Spiegel erblickt: Ihr Haar ist grau, ihr Gesicht ist grau, sie scheint mit der Wand zu verschmelzen. Und als sie eine graue Hand ausstreckt, um ihr Spiegelbild zu berühren, da versteht sie, dass sie kein Mensch mehr ist, sondern bloß sein Nachhall, sein Echo: ein Geist. Und trotzdem darf sie nicht in ihren Spinnwebkokon zurückkehren, denn es gibt das Kind, das behütet, den Mann, der erinnert werden muss.
Von dem Spiegel tritt sie ans Fenster und schaut hinaus auf das Meer, welches ihr den Seefahrer nahm, und zu dem Leuchtturm, den ihr Vater einst errichten ließ. Es braucht, versteht sie, ein Denk-, ein Mahnmal, sodass nicht nur Jonathan und sie, sondern alle Truvener den Seefahrer und all die anderen Ertrunkenen nicht vergessen werden.
Noch am selben Abend klopft Esther an Klaras Tür. »Ich werde hinaus auf die Insel Thul ziehen«, erklärt sie.
»Aber –«, setzt Klara
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