Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
an.
Doch Esther wendet sich ab, bevor die Cousine weitersprechen kann. Es gibt keine Einwände, keine Bedenken, nichts, das Esther von ihrem Vorhaben abbringen könnte. Es gibt ja nicht einmal mehr Esther. Es gibt nur noch den toten Mann und das lebende Kind. Deswegen wird Esther hinaus auf die Insel ziehen und dort wachen, über ihren Sohn und über das Meer.
*
Viele Jahre vor dem Tod des Seefahrers beginnt Klaras Geschichte, und sie beginnt mit Klaras Geburt, im selben Jahr, in dem auch Esther geboren wird.
Klaras Mutter ängstigt sich vor dem Neugeborenen, ängstigt sich vor ihren dunklen Augen, Großmutteraugen, die alt und wissend im kleinen Kopf sitzen. Das Kind, das doch viel zu jung ist, um etwas von Tagen und Wochen und Monaten zu verstehen, von der Zeit und ihrem Verstreichen, das Kind lauert auf die Zukunft und auf den Tag, an dem es alt genug sein wird, den ersten Schritt zu tun, der es fort von der Mutter und fort von Truven bringt. Früher als die anderen Mädchen und Jungen lernt Klara, sich auf den Bauch zu drehen, sich auf alle viere aufzurichten und auf zitternden Beinen der Haustür entgegenzuwanken. Mit dem Sprechen aber lässt sie sich Zeit, so lange, bis die Mutter fürchtet, sie werde für immer stumm wie ein Fisch bleiben. Ihre ersten Worte schließlich trägt sie mit einer kehligen Stimme vor, und schon bald spricht man im ganzen Dorf hinter vorgehaltener Hand über das Mädchen mit der tiefen Stimme und den alten Augen. Obwohl man weiß, dass sie in Truven geboren wurde, betrachten die Truvener sie als eine Weitgereiste. Man hört, man sieht ihr das Fremde an.
In der Schule ziehen die anderen Kinder sie auf, doch schert sich Klara wenig um die Hänseleien. Wenn die Kinder sie umringen, sie an den Haaren ziehen und im Singsang fragen, woher sie komme, wo sie zu Hause sei, dann antwortet sie:
Ich komme von einem Ort, an dem es immer schneit; ich komme aus einem Schloss über den Wolken. Dort, wo ich herkomme, gibt es Monster mit tausend Augen und noch mehr Zähnen, und sie alle gehorchen mir.
Die anderen Kinder lassen sich schnell in die Flucht schlagen, berichten atemlos den Eltern von Klaras Geschichten. Wieder und wieder stellt man Klaras Mutter zur Rede; wieder und wieder schilt die ihre Tochter. Doch wann immer sie Klara ermahnt, dass es an der Zeit sei, mit dem Lügen aufzuhören, begegnet ihr die Tochter mit dem gleichen Lächeln. Denn Klara weiß, dass sie nicht lügt, dass sie tatsächlich von einem fernen Ort kommt, und vielleicht gibt es dort Schlösser und vielleicht gibt es dort Monster. Eines aber gibt es dort sicher nicht: das Meer, das Dorf, die Mutter.
Einige Jahre später bricht Klara zu ihrer großen Reise auf, um die Heimat, die nicht in der Heimat liegt, in der Ferne zu finden. Sie sieht Städte, Berge, Flüsse und Seen und immer wieder das Meer. In den kleineren Dörfern rastet sie, doch fühlt sie sich stets an Truven erinnert und reist bald weiter. Unterwegs trifft sie Abenteurer, aber die Abenteurer sind keine Seefahrer, und Klara ist nicht Esther. Keiner unter ihnen gewinnt ihr Herz, und obwohl Klara quer durch das Land wandert, findet sie auch keinen Ort, an dem sie länger bleiben möchte. Ab und an lässt sie sich mit einem Abenteurer ein, nach wenigen Nächten aber zieht es sie stets fort und weiter.
Je länger sie reist, umso weniger Abenteurer kreuzen ihren Weg. In der abgelegensten der großen Städte trifft sie schließlich auf einen, der behauptet: »Dies ist die letzte Stadt, danach kommt nichts mehr.«
Klara nickt, doch statt umzukehren, zieht sie weiter, und hinter der Stadt kommt nicht das Nichts, sondern ein Wald, in welchem der Schnee so hoch liegt, dass sie bis zu den Knien darin versinkt.
In dem Wald trifft sie auf einen Abenteurer, der hoch oben in einer Baumkrone sitzt und nach den Wölfen Ausschau hält.
»Dies ist der letzte Wald, danach kommt nichts mehr«, behauptet er.
Klara nickt, doch statt umzukehren, zieht sie weiter. Und hinter dem Wald liegt ein Fluss, der von einer dicken Eisschicht bedeckt ist. Genau in seiner Mitte trifft sie auf einen weiteren Abenteurer, der ihr armrudernd entgegenschlittert. »Dies ist der letzte Fluss, danach kommt nichts mehr«, behauptet er.
Klara nickt, doch statt umzukehren, zieht sie weiter. Und hinter der letzten Stadt, hinter dem letzten Wald, hinter dem letzten Fluss liegt nicht das Nichts, sondern die Einöde mit ihrem sumpfigen Land, ihrem braunen Gras, ihren vertrockneten Bäumen und ihren
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