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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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unzähligen Krähen. Obwohl es nichts gibt, woran sich das Auge oder das Ohr erfreuen könnte, läuft Klara weiter. Die einzigen Geräusche sind das Rascheln trockener Blätter, das Platzen der Blasen in den Sümpfen und das Krächzen der Krähen. Doch je weiter sie läuft, umso weniger Bäume und Krähen werden es. Manchmal glaubt sie, aus den Augenwinkeln ein Tier über das flache Land huschen zu sehen, aber wenn sie den Kopf dreht, kann sie nichts entdecken. Die Tage schwinden in die Nächte. Der Himmel hellt nur für wenige Stunden auf, färbt sich in unheilvollem Ockergelb. Die tristen Farben lassen Klaras Gedanken trübe und ihre Glieder schwer werden. Schon seit Stunden ist ihr Gang nicht mehr beschwingt; sie trottet und stolpert. Solange es aber noch unbekanntes Land gibt, ist es ihr unmöglich, den Rückweg anzutreten.
    Klara muss beinahe eine Woche gewandert sein, als sie den Rand der Welt erreicht. Lange steht sie dort, mit den Fußspitzen bis an die äußerste Kante des letzten Vorsprungs herangetreten, und während sie hinabsieht, in die unendliche Schwärze und das Sternennetz darin, ist es kein Heim- und kein Fernweh, das sie fühlt, sondern etwas dazwischen, die Sehnsucht nach einem Ort, den sie nicht in der Ferne und nicht in der Heimat finden wird. Auch hierher gehört sie nicht. Für einen Moment strebt jeder noch so kleine Bestandteil ihrer selbst nach dort draußen, sieht Klara sich im endlosen Fall durch das Universum stürzen. Beinahe fühlt sie sich der Schwerkraft enthoben, ein Sog erfasst sie. Gerade, als sie sich ihm ergeben will, hört sie ein Pochen, und das Pochen kommt nicht aus der feuchten Erde und nicht aus der schneidend kalten Luft, sondern aus ihrem eigenen Körper.
    Unter ihrem Herz klopft verhalten ein zweites.
    Verwundert lauscht sie dem Klopfen, das wie eine vertraute Musik ist, eine Sprache, die sie auf Anhieb versteht. Sie zieht den rechten Schuh von der Kante zurück, dann den linken. Einen letzten Blick wirft sie in die Schwärze, bevor sie sich abwendet, dem Rand der Welt den Rücken kehrt.
    Viele Stunden wandert Klara, bis sich der erste Baum gegen den Horizont abzeichnet. Als sie ihn erreicht hat, lässt sie sich unter dem spärlichen Schutz seiner kahlen Äste nieder. Mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt, fällt sie in einen unruhigen Schlaf. Jedes Knacken, jedes Rascheln lässt sie auffahren. Immer wieder glaubt sie, den Hauch einer Berührung zu spüren, doch wenn sie die Augen öffnet, ist niemand zu sehen. In ihrem Kopf und ihren Gliedern kämpfen Müdigkeit und Unruhe gegeneinander; es mag das zehnte oder auch das hundertste Mal sein, dass sie den Kopf hebt, als ihr Blick träge über die öde Landschaft wandert und an etwas hängen bleibt. Aus den Sümpfen zieht sich eine dunkle Gestalt ans Ufer. Mit unsicheren Schritten und schleppendem Gang hält sie auf Klara zu. Wie um ihre Augen anzutreiben, blinzelt Klara nun schneller. Das Gesicht des Geschöpfes ist nur halb ausgeformt, über den Schädel spannt sich raue, schuppige Haut, so kohlschwarz, als sei sie verbrannt; tief in den Höhlen liegen Augen, die nachtdunkel glänzen wie die Panzer mancher Käfer. Noch immer wähnt Klara sich halb im Traum, ihre Gedanken fließen zäh. Erst als es einen weiteren Schritt auf sie zu macht, bricht die Angst über sie herein, und sie ist weniger ein Gefühl denn ein Geräusch, ein Tosen, ein Rauschen, durch das sie nur noch ein einzelnes Wort hören kann: fort. Sie muss fort.
    Das Geschöpf kommt näher. Es eilt nicht, weil es keinen Grund zur Eile hat. Es kann Meilen zurücklegen, ohne zu rasten, braucht keinen Schlaf, nichts zu essen, nichts zu trinken. Es wird ihr folgen, versteht Klara, bis an die Grenze der Einöde, über den letzten Fluss, durch den letzten Wald bis in die letzte Stadt, wo man schnell Fensterläden und Türen schließen wird, sollte es ihr vorher nicht gelingen, diesen Schatten, diesen lebenden, atmenden Flecken feucht glänzender Nacht abzuschütteln.
    Klara dreht sich nicht um. Nicht, als sie den letzten Fluss überquert, nicht, als sie die ersten schneebedeckten Bäume erreicht und die ersten Pfade und befestigten Wege betritt. Tagelang rastet und ruht sie nicht; bald legt sich die Erschöpfung wie eine warme, stickige Decke über ihre Gedanken, dämpft selbst die Angst. Trotzdem läuft sie weiter.
    Auf ihrer Heimreise erzählt sie niemandem von dem Erlebten. Dafür, versichert sie sich selbst, gibt es keinen Grund. Denn das Geschöpf ist bloß

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