Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Rand der Welt und kehrten mit ihr zurück und wurden mit ihr nach Maas geschickt.
Wenn Paul Klara besucht, kann er ihr ansehen, dass ihr das Land fehlt, die Wälder, die Berge und die Menschen, doch fragt sie ihn nie nach Truven, nach Esther und ob man sie je zurückkehren lassen wird. Vielleicht ahnt sie, dass noch immer Kinder verschwinden, man noch immer schlecht über sie spricht.
Jahre verstreichen, bevor der Nachmittag kommt, an dem sie sich einen Ruck gibt, hinaus aufs Meer und zum Festland blickt und so leise fragt, dass er sie zunächst nicht versteht: »Haben sie es gefunden?«
Er schüttelt den Kopf und sie wendet sich ab, sagt mehr zu sich selbst als zu ihm: »Zumindest müssen wir uns hier draußen nicht fürchten.«
Er öffnet den Mund, wie um etwas zu entgegnen, dann schließt er ihn wieder. Eine Weile schauen sie hinaus; das Wasser an diesem Tag ist ruhig, fast bewegungslos.
II
Obwohl diese Geschichte ihren Lauf mit Kristian und Thomas, mit Klara und Esther nimmt, ist es nicht die Geschichte zweier Brüder und nicht die Geschichte zweier Cousinen. Es ist die Geschichte von Jonathan und Muriel. Und sie beginnt so:
Es leben einmal zwei Kinder auf zwei Inseln, und sie kennen nichts außer ihren Inseln und niemanden bis auf ihre Mütter. Aber halt, so stimmt es nicht: Sie kennen nicht nur ihre Inseln, sondern auch das Meer. Und sie kennen nicht nur ihre Mütter, sondern auch Peter und Paul.
Beginnen wir mit Muriel auf Maas. Genau wie es ihre Mutter war, ist auch sie ein wildes Kind. Meist sind ihre Haare verfilzt, ihre Knie aufgeschürft. Die Insel ist nicht groß, doch es gibt genug Platz, um zu rennen, und genug Klippen, um zu klettern, und das ganze Meer, um darin zu schwimmen. Nur manchmal, da hält Muriel inne. Sie steht dann so starr, so reglos, als hielte ein geheimer Wunsch, ein Gedanke ihren Körper aufrecht wie ein eisernes Gerüst. Auch der Mutter entgeht nicht, dass sie in diesen Momenten zum Festland schaut.
Weil die Bücher, die Paul auf die Insel bringt, immer zu schnell gelesen sind und Muriel sie bald alle auswendig kennt, erzählt ihr die Mutter vor dem Zubettgehen von ihren Reisen und Abenteuern. Wie weit sie schon gewandert ist: bis ins Landesinnere, durch einen Wald, in dem es immer schneit, und bis zu einem Fluss, über den man laufen kann wie über eine Brücke aus Eis.
»Was liegt hinter dem Fluss?«, fragt Muriel einmal.
»Nichts«, behauptet Klara.
»Nichts?«, fragt Muriel.
»Bloß Einöde«, sagt Klara, aber weil sie nicht ihre Tochter anschaut, sondern die Möwen, weiß Muriel, dass sie nicht die Wahrheit spricht.
Wenn Paul sie besucht, bringt er nicht nur Brot und Milch und neue Bücher voller Bilder und Geschichten mit, sondern auch Figürchen aus Holz und feingeschliffene Glassteine und glatte Murmeln. Muriel weiß: Es gibt einen Ort, von dem all diese Dinge kommen. Und wenn Paul wieder in sein Boot steigt und sich winkend entfernt, spürt sie ein Ziehen in der Brust. Ihre Füße werden unruhig, als wollten sie mit ihr davonlaufen und sie über das Wasser bis zum Festland tragen. Erst nachdem sich Pauls Farben zersetzt haben und er eins geworden ist mit dem fernen Land, wendet sie sich ihrer Mutter zu. Und in dem kurzen Moment, bevor auch Klara sich umdreht, kann Muriel es in ihren Augen sehen: dass die Mutter, genau wie Muriel selbst, sich nichts sehnlicher wünscht, als die Insel zu verlassen.
»Warum nimmt Paul uns nicht einmal mit?«, fragt Muriel eines Abends.
»Das geht nicht«, antwortet Klara, löscht das Licht und huscht aus dem Zimmer.
»Aber warum geht es nicht?«, fragt Muriel Klara am nächsten Morgen.
»Weil es zu gefährlich ist«, sagt Klara, stellt eine Schüssel mit Haferschleim auf den Tisch und eilt aus der Küche.
Eine kleine Insel ist kein guter Ort, um vor den Fragen eines Kindes zu fliehen. Muriel jagt Klara den Turm hinauf und hinunter. Aber warum?, will sie wissen. Aber wieso? Sie verfolgt Klara durch den Gemüsegarten hinter dem Turm und bis an den äußersten Rand der Klippen, wo Klara nichts anderes bleibt, als sich der Tochter zu stellen.
»Warum können wir die Insel nicht verlassen?«, fragt Muriel, wie sie es bereits unzählige Male zuvor gefragt hat. Und wieder scheint es, als wollte Klara nicht antworten, als zöge sie es vor, geheime Abkommen und Vereinbarungen zu treffen, mit den Möwen, die sie umkreisen.
»Es gibt einen Grund, es gibt eine Geschichte«, sagt sie, »aber sie ist nichts für Kinder, und solange ich
Weitere Kostenlose Bücher