Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
weiß, dass die Schrecken der Nacht einem bis in die Tage folgen können, nickt sie.
*
Als der Sommer sich dem Ende neigt und die Zeit der Stürme beginnt, verschwindet das erste Kind – ein Junge, den man zuletzt am Strand sah, wo er mit Muscheln und Steinen spielte.
Nachdem die Fischer einen ganzen Tag vergebens nach ihm gesucht haben, vermuten sie, er müsse ertrunken sein. Um diese Jahreszeit aber ist das Wasser bereits beißend kalt, und warum er ins Meer hätte laufen sollen, kann sich niemand erklären.
Klaras Unglück nimmt seinen Lauf, als wenig später zwei weitere Kinder verschwinden und man eine Versammlung einberuft. Als sie sich zwischen ängstlichen Vätern und Müttern wiederfindet, geschieht es wie von selbst, dass sich ihr Arm hebt, sie nach vorne tritt und beginnt, ihre Geschichte ein weiteres Mal zu erzählen.
In Truven ist die eigene Schande die Schande der Familie, und die Schande der Familie die aller, die zu ihr gehören. Unter den Blicken der Umstehenden spürt Esther, wie Klaras Schuld einen Kreis zieht, der sie beide einschließt. Sie tritt einen entschiedenen Schritt zurück, um mit der Reihe steingesichtiger Frauen zu verschmelzen, doch diese weichen vor ihr zurück. Und hinter ihrer Stirn beginnt die Wut zu pochen, kreisen zornige Gedanken in immer größeren Bahnen: Warum hat Klara hinaus in die Welt ziehen müssen? Und was haben Klaras Reisen und Klaras Schrecken mit Esther und dem Dorf zu schaffen? Und so ist es Esther, die sich zu Wort meldet, die laut über die Köpfe der anderen Frauen hinwegspricht: »Wir müssen sie aus Truven fortbringen.« Und es ist Esther, die als Erste den Kopf schüttelt, als Klara verspricht, das Dorf am nächsten Morgen zu verlassen, weit fortzugehen und nie wieder zurückzukehren.
»Wir können ihr nicht mehr trauen«, sagt sie. »Bringen wir sie nach Maas. Dort soll sie bleiben. Dann können wir uns sicher sein, dass sie die Insel nicht wieder verlässt. Sie soll auf Maas leben, das ist Strafe genug.«
Man bringt beide Frauen am gleichen Tag auf die Inseln – die eine, weil sie möchte, die andere, weil sie muss. Auf den Tag ihrer Ankunft folgen weitere Tage. Sie reihen sich aneinander und werden zu Wochen, die reihen sich aneinander und werden zu Monaten, die reihen sich aneinander und werden zu Jahren. Jahre, in denen Esther und Klara dem Meer beim Rauschen zuhören und ihren Kindern beim Wachsen zusehen.
Bereits in ihrem ersten Jahr auf Maas legt Klara einen Gemüsegarten an, doch der Boden ist steinig und wenig fruchtbar, und die spärlichen Erträge reichen kaum aus, um sich selbst zu versorgen. Nicht anders ergeht es Esther. Auf Thul wächst ein einziger Baum, und seine Zweige tragen keine Früchte. Doch erklären sich zwei Brüder bereit, nach Thul und Maas hinauszufahren und die beiden Frauen mit dem Nötigsten zu versorgen.
»Solange ich nach Thul fahren kann«, sagt der Ältere, Peter, zu seinem Bruder Paul. Und Paul nickt, ohne seinen Bruder nach dem Grund zu fragen. Denn obwohl Peter sich ihm nie anvertraut hat, weiß Paul, dass Peter mit den Gedanken oft bei Esther ist. Nicht erst, seitdem sie zur Witwe wurde, nicht erst, seitdem sie den Seefahrer heiratete, schon lange vor Thul, vor dem Tod und der Heirat ließ Peter die Gedanken wandern und verweilen bei Esther und dachte sich oft »Eines Tages vielleicht …«. Wenn Peter Brot, Wasser, Käse und Neuigkeiten vom Festland bringt, dann erzählt er Esther, dass noch immer Kinder verschwinden und die Fischer jede Nacht nach Klaras Schatten suchen, ihn aber nicht finden, nicht auf den Booten, nicht in den Straßen oder den leer stehenden Häusern. Esther weiß bereits von der erfolglosen Suche; nachts kann sie die Fackeln drüben am anderen Ufer sehen. Dann dankt sie dem Meer und jeder einzelnen Meile, die zwischen ihrem Sohn und Klaras Schatten liegt.
»Ich werde nie wieder aufs Festland zurückkehren«, sagt sie oft zu Peter. Und um sie nicht zu beunruhigen, behält Peter für sich, was man sich im Dorf erzählt. Man könne den Taucher nicht finden, heißt es dort, weil er das Land längst verlassen und sich auf den Grund des Meeres zurückgezogen habe. Nur ab und an steige er auf, um ein Kind zu sich hinunterzuholen.
Genau wie sein Bruder Peter lässt auch Paul die Gedanken bisweilen wandern, doch haben sie nie Halt bei Esther gefunden, wanderten schon vor Jahren weiter und bis zu ihrer Cousine, folgten Klara über die Grenzen Truvens hinaus und bis in die Ferne und bis an den
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