Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
mitgebracht hat, nimmt Peter Jonathan beiseite. Er steckt ihm einen Brief zu, legt einen Finger auf die Lippen und schüttelt leicht den Kopf, als Jonathan zum Turm blickt.
In dem Brief steht:
Liebe Bewohner von Thul,
es schreibt Muriel von Maas. Auf Maas tut sich nichts. Was tut sich auf Thul?
Muriel
Den Brief hat Muriel zum einen aus Neugier, zum andern aus Trotz geschrieben. Noch immer schweigt sich die Mutter aus über ihr altes Leben auf dem Festland, und wenn Muriel etwas erfahren will über die Welt jenseits von Maas, bleibt ihr nichts anderes, als zu Stift und Papier zu greifen. Die Nachricht steckt sie Paul zu, mit der Bitte um Geheimhaltung.
Nur wenige Tage später überreicht Paul ihr die Antwort.
Liebe Muriel von Maas,
auf Thul tut sich noch viel weniger. Ich würde euch gern einmal besuchen, doch kann ich die Insel wegen dem Taucher nicht verlassen.
Schöne Grüße von Thul, Jonathan
Auf den ersten Brief folgt ein zweiter und auf den zweiten ein dritter und auf den dritten ein vierter. Jonathan und Muriel schreiben sich durch die Tage und Nächte, durch die Sommer und Winter. Ihre Mütter ahnen nichts von den Briefen. Denn so wie Muriel Paul bittet, ihr Geheimnis zu bewahren, so bittet auch Jonathan Peter, der Mutter gegenüber die Briefe zu verschweigen. Die Brüder wissen, was es heißt, ein Geheimnis zu hüten, und sie wissen auch, was es heißt, voller Sehnsucht und Furcht hinaus aufs Meer zu schauen. Welchen Schaden können schon ein paar Briefe anrichten?, fragen sie einander und versichern sich gegenseitig: keinen.
Als Muriel von Jonathan erfährt und Jonathan von Muriel, da färbt sich das Leben neu ein. Es beginnt im Meer, das plötzlich nicht mehr grau, sondern silbern ist. Die Möwen kreischen nicht mehr, sie singen, und der Haferschleim, den die Mütter zubereiten, schmeckt angenehm würzig. Zu ihrem Ärger sind die Inseln so weit voneinander entfernt, dass sie einander kaum erkennen können. Wenn der eine auf und ab springt und mit den Armen rudert, kann der andere vielleicht ein Gewirbel ausmachen, der eigentliche Mensch aber bleibt unkenntlich.
Mit jedem Brief schickt Jonathan Muriel auch eine Zeichnung. Er zeichnet ihr Thul und sein Turmzimmer und das Meer und Maas, von Thul aus betrachtet. Im Gegenzug schreibt Muriel ihm seitenlang von Abenteuern, die sie nicht erlebt, von Reisen, die sie nicht unternommen hat.
In den ersten Jahren sind den beiden die Briefe genug. Sie haben alle Zeit der Welt. Denn morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Zubettgehen müssen sie nur ans Fenster treten und hinausschauen, um zu sehen, dass sich die Insel und somit auch der andere noch an Ort und Stelle befindet.
Doch mögen Muriels Schilderungen noch so spannend und Jonathans Zeichnungen noch so schön sein, den Klang einer Stimme etwa können sie nicht ersetzen. Ein Mensch ist mehr als seine Gedanken, ist auch Berührung und Geruch und hat einen Körper und ein Gesicht. Und mit den Jahren, die vergehen, verhärtet sich dieser Verdacht, wird vom Gedanken zur Erkenntnis und von der Erkenntnis zur Gewissheit: Die Briefe werden nicht reichen.
*
Eines Tages findet Muriel ein Holzkästchen.
Stell dir vor, was ich zufällig gefunden habe, wird sie später Jonathan schreiben und es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen: Zufällig ist nichts an ihrem Fund. In den letzten Wochen hat sie sich wiederholt in Klaras Zimmer gestohlen, um dort nach Geheimnissen zu suchen. Sie weiß bereits, wo Klara die Glasperlenketten aufbewahrt, die Paul ihr geschenkt hat, und wo die Briefe, die sie an jemanden namens E. geschrieben, aber Paul nie mitgegeben hat.
An jenem Nachmittag, während Klara im Gemüsegarten nach den Kartoffeln sieht, findet Muriel das Holzkästchen.
Es steht unter Klaras Bett, in der hintersten Ecke, und als sie seine Umrisse erkennt, muss sie bis ganz unter das Gestell kriechen, bevor sie es zu fassen bekommt. Als sie es hervorzieht und im schwindenden Sonnenlicht betrachtet, erkennt sie es als ihren bisher wertvollsten Fund. Das Kästchen liegt schwer in ihrer Hand, in den Deckel sind feine goldene Verzierungen eingelassen, ein Muster aus Spiralen und ineinandergreifenden Kreisen. Sie klappt den Deckel auf und erblickt kleine, rechteckige Bilder, die anders sind als alle Bilder, die sie kennt. Anders als die dunklen, schweren Gemälde, die an den Wänden hängen, und anders als die Zeichnungen, die Jonathan ihr schickt. Die Konturen sind genauer, die Farben bestimmter; als hätte
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