Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
der Maler nicht mit Öl oder Aquarellfarben, sondern mit der Wirklichkeit selbst gemalt. Auf einem sieht sie eine Gruppe von Bäumen, die so dicht beieinanderstehen, als führten sie ein Gespräch, auf einem anderen ein Stück Land, das so weit in den Horizont reicht wie das Meer.
»Das sind Fotografien«, sagt Klara hinter ihr, und vor Schreck fährt Muriel zusammen. Schnell stopft sie die Bilder in das Kästchen zurück, doch die Mutter kniet bereits neben ihr.
»Ich wollte nur …«, setzt Muriel an.
Behutsam nimmt Klara ihr das Kästchen aus den Händen. Statt es wieder unter dem Bett verschwinden zu lassen, breitet sie die Bilder auf dem Boden aus.
»Vor vielen Jahren bin ich einmal bis zum Rand der Welt gelaufen«, sagt Klara und streicht über eines der Bilder.
»Die Welt hat einen Rand?«
»Die Welt hat viel. Viel Gutes, viel Schlechtes. Und vieles, was du niemals zu Gesicht bekommen wirst. Und ich bin froh darum.«
»Wie ist es dort am Rand der Welt?«
Klara schließt die Augen. Am Rand der Welt, erinnert sie sich, ist es immer Nacht, reiht sich ein Mond an den nächsten, sodass die Sonne gar nicht erst versucht ist, sich in diese Gefilde vorzuwagen. Der Himmel ist von tintigem Blau – nein Grün – nein Violett – nein, er ist von einer Farbe, die man nirgendwo sonst auf der Welt sehen kann, die keinen Namen hat. Klara erinnert sich, wie sie auf einem Felsen stand, ganz ähnlich den Felsen von Maas, nur dass sie nicht in das Meer blickte, sondern in endloses, dunkel geschichtetes Nichts, in dem sich die Sterne verfingen. Sie öffnet die Augen und schüttelt leicht den Kopf, als sei es nicht weiter wichtig.
»Ich hoffe, dass ich einmal reisen werde wie du«, sagt Muriel.
»Mit dem Reisen, Muriel, ist es wie mit dem Schwimmen. Mit jedem Zug, den du zurücklegst, entfernst du dich ein klein wenig weiter vom Ufer. Jeder Zug, jeder Schritt scheint kaum von Bedeutung. Doch gibt es eine unsichtbare Grenze, und erst wenn man sie passiert hat, sieht man, wie fern der Heimat man ist, wie beschwerlich und lange der Rückweg sein wird.«
Und Klara erinnert sich an ihre Reisen, daran, wie sie sich mit einem Mal nach all dem sehnte, was sie zuvor geflohen hatte: den ewigen Fischgerichten, dem Geruch des Meeres und der Stimme der Mutter. Wieder in Truven angelangt, entpuppte sich das Heim- als Weltweh, und auch am Küchentisch ihrer Mutter fühlte sie sich nicht geborgen. In ihrem Kopf trug sie nun nicht länger die überschaubare Küste, sondern das Wissen um Orte und Geschöpfe, die sie lieber vergessen hätte.
Während sie Muriel über das Haar streicht und die Bilder eines nach dem anderen in dem Kästchen verschwinden lässt, hofft Klara, dass ihre Tochter nie herausfinden wird, was sie selbst lernen musste: Ist man ein anderer geworden, ist es nicht damit getan, an den vertrauten Ort zurückzukehren. Die Fremde, die man in sich trägt, lässt auch das eigene Heim fremd werden.
Als Muriel abends in ihrem Bett liegt, denkt sie noch lange an die Erzählung der Mutter, an all die fernen Orte, die Klara gesehen hat. Sie, Muriel, wünscht sich nur an einen Ort: nach Thul, zu Jonathan. Geht es aber nach Klara, wird sie Maas wohl nie verlassen. Und so macht es keinen Unterschied, dass Jonathan unter demselben Himmel sitzt wie sie. Er ist so unerreichbar, dass er genauso gut am Rand der Welt auf sie warten könnte.
*
Muriel ist ungeduldig. Die Ungeduld wächst aus der Langeweile, denn das Meer langweilt sie und der Gemüsegarten und die Wendeltreppe des Turms, die sie schon zahllose Male treppauf, treppab gelaufen ist. Die Ungeduld wächst auch aus der Sehnsucht. Muriel sehnt sich nach der Welt und nach all dem, was sie nicht einmal benennen könnte, weil sie es noch nicht entdeckt hat. Und sie sehnt sich nach Jonathan. Jonathan aber schreibt nie davon, dass er sich vorstellt, wie es wäre, einander zu begegnen, nicht nur über Worte und Buchstaben, sondern von Angesicht zu Angesicht. Wenn er besonders lange an einer besonders ausführlichen Beschreibung eines interessanten Thuler Gewächses arbeitet, können Wochen verstreichen, bis Paul Muriel wieder einen Brief bringt. In dieser Zeit quält sie die Ungeduld besonders, und sie ist wie ein aufgebrachter Geist, der sich ihr an die Fersen heftet, ihr früher oder später in die Knochen fährt, die Rippenbögen umklammert und an ihnen rüttelt wie an Gitterstäben. Tu etwas, du musst etwas tun!, flüstert der Geist, und das Flüstern liegt nicht nur in ihren
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