Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
schläft, ob sie noch wach ist, genau wie er? Ob sie gerade zur Insel Thul herübersieht? Oder zum Festland? Wie lange wird sie dort noch warten, wie viele Briefe werden sie einander schreiben, bevor sie den Stift beiseitelegt, bevor sie einen Weg findet, Maas für immer zu verlassen, um ihre Blumen, ihre Berge, ihren staubigen Mond zu suchen? Und wenn sie erst dort draußen ist, wird sie sich dann noch an Maas erinnern, an Thul, an Jonathan?
»Bloß eine Geschichte, die wahr sein könnte, oder auch nicht«, sagt Jonathan laut und tritt gegen einen Stein. Eine Weile bleibt er stehen, bevor er es wagt, dem Meer den Rücken zuzukehren und langsam zurück zum Turm zu laufen.
Nachdem Jonathan zu Bett gegangen ist, findet er lange keinen Schlaf, und auf die durchwachte Nacht folgt ein träger Morgen. Am Nachmittag legt Peter mit seinem Boot an, und Jonathan hilft ihm, die Kisten vom Festland hineinzutragen, und begleitet ihn zurück zum Boot. Dort angelangt, hält er Peter zurück.
»Du musst mir einen Gefallen tun«, sagt er. »Du musst mich hinaus aufs Meer bringen. Zur Insel Thul.«
Obwohl Jonathan nicht lauter als gewöhnlich gesprochen hat, fährt Peter herum, als könne der Wind durch eine geheime Fügung Jonathans Worte durch die Fenster und zu Esther getragen haben.
»Aber wenn deine Mutter davon erfährt …«, sagt er.
Irgendwo in seinem Inneren wartet Esther auf Jonathans Rückkehr. Und während sie die Kisten leert, die Peter ihnen mitgebracht hat, Birnen und Äpfel und Mehl und Öl auspackt, weiß sie nichts von den Worten, die gesprochen, den Entscheidungen, die getroffen werden, ahnt nichts von den geheimen Briefen.
Peter blickt zu seinem Boot, als wolle er hineinspringen und ohne ein weiteres Wort davonrudern, blickt zum Turm, als wolle er hineinrennen und Esther alles anvertrauen, jeden einzelnen Brief beichten, den er in den letzten Jahren von einer Insel zur anderen gebracht hat. Unwillkürlich packt Jonathan Peter am Arm – nur um ihn im selben Moment wieder loszulassen. Wenn er Peter zurückhalten will, wird es ihm ohnehin nicht mit Körperkraft, sondern nur mit Worten gelingen. Das Sprechen aber liegt ihm so viel weniger als das Zeichnen. Mit Graphitstiften und genügend Zeit könnte er Peter ein Bild von Muriel zeichnen, das Peter erklärt, warum er Jonathan nach Maas bringen muss. Doch hat er weder Graphitstifte noch ausreichend Zeit.
»Ich weiß nicht, ob sie noch länger auf mich warten wird«, sagt er schließlich und drückt mit dem rechten Fuß einen kleinen Stein in den Sand, bis er verschwunden ist.
Peter schaut Jonathan an, schaut zum Boot und zum Turm.
»Gut«, sagt er schließlich, »ich fahre dich hinaus aufs Meer, aber ich bringe dich noch in derselben Nacht wieder zurück. Und deine Mutter wird von nichts erfahren.«
Jonathan mustert das kleine Boot, wie es unruhig auf den Wellen schaukelt. Aus seiner Hosentasche zieht er den Brief für Muriel, den er ihr bereits in den frühen Morgenstunden geschrieben hat.
»Damit sie weiß, dass ich komme«, sagt er.
*
Mitten in der Nacht weckt ihn ein Geräusch, das die alten Träume vom Taucher aufsteigen lässt. Einen Moment geht ihm der Atem schnell, wollen sich die Arme, die Beine nicht bewegen, bevor es ihm gelingt, aufzustehen und ans Fenster zu treten. Draußen sieht er Peter, der kleine Muscheln zu ihm hinaufwirft.
Während Jonathan die Treppe hinunterschleicht, während er auf Peter zugeht und während er sich von ihm ins Boot helfen lässt, ist es einzig der Gedanke an Muriel, der verhindert, dass er wieder zurück zum Turm läuft.
Jonathan umklammert die Ränder des Bootes. Sie haben sich noch kaum von Thul entfernt, da wird ihm der Magen flau, hat ihn der Schwindel fest im Griff. Das ewige Schaukeln, die unentschiedene Schwerelosigkeit kann er nur schlecht ertragen. Er meint zu spüren, wie sich von unten etwas gegen das Holz stemmt, meint, schattenhafte, flinke Bewegungen im Wasser ausmachen zu können. Einen Moment vergräbt er den Kopf in den Armen, die Übelkeit aber nimmt zu, sobald er das Meer aus den Augen lässt. Für die restliche Überfahrt beschließt er, nur noch Peter anzuschauen. Doch weckt auch Peters Anblick kaum seine Zuversicht: Er rudert mit hochgezogenen Schultern und so, als wolle er sich ducken; er schaut sich oft um, auch wenn die Nacht hinter ihnen so finster ist wie vor ihnen.
Spürst du es auch?, möchte er von Peter wissen. Scheint dir das Meer heute besonders unruhig? Sind die Wellen
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