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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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es verhindern kann, bekommst du sie nicht zu hören.«
    Und etwas liegt in den Worten, der Stimme und dem Ausdruck in ihren Augen, das Muriel verstehen lässt: Sie kann fragen so lange und so oft sie möchte, die Mutter wird ihr nichts erzählen von den Gefahren des Landes und den Gefahren des Meeres.
    *
    Wäre das Meer kein Meer, sondern flaches Land, ließe sich die Entfernung zwischen den beiden Inseln innerhalb einer Stunde bequem zurücklegen. Nicht unweit von Muriel also wächst Jonathan auf.
    Anders als Muriel schwimmt er nie im Meer und klettert nur selten. Anders als Muriel schaut er nicht sehnsüchtig zum Festland. Den Großteil des Tages verbringt er am Esstisch, wo er aufwendige Bilder der Thuler Flora – Sträucher – und der Thuler Fauna – Möwen – malt.
    An den Abenden erzählt ihm seine Mutter vom Festland. Von den Kriegen, den Schrecken, den kalten Wintern, den heißen Sommern. »Das Land ist endlos weit, und man geht dort leicht verloren. Bevor man sich versieht, ist man über den Rand der Welt und ins Nichts gefallen«, sagt sie, bevor sie ihn zudeckt. »Wie gut du es hier auf der Insel hast.«
    An einem Nachmittag, der scheint wie alle anderen Nachmittage auch, legt Jonathan seinen Graphitstift beiseite.
    »Was ist mit der anderen Insel?«, fragt er. »Können wir nicht einmal dorthin fahren?«
    »Die andere Insel?«, fragt Esther so erstaunt, als sei ihr diese bisher nie aufgefallen. Und tatsächlich ist ihr, als höre sie zum ersten Mal von einer weiteren Insel, hat sie doch die vergangenen Jahre damit verbracht, nicht an Maas zu denken und nicht an Klara und nicht an Klaras Schatten und nicht an die verschwundenen Kinder.
    »Dort wohnen schlechte Menschen, vor denen wir uns besser in Acht nehmen«, sagt sie zögernd und lässt den Sohn mit seinen Graphitstiften und Skizzenblöcken am Esstisch sitzen.
    Aber anders als das Festland, lässt Jonathan sich die Insel so schnell nicht ausreden. Woher sie denn wisse, wer auf der anderen Insel lebt, fragt er sie vor dem Zubettgehen. Und ob man nicht vielleicht für ein, zwei Stunden dorthin fahren und zur Not schnell wieder abreisen könne.
    Eine kleine Insel ist ein schlechter Ort, um einem neugierigen Kind aus dem Weg zu gehen. Jonathan folgt Esther mit seinen Fragen, seinen Einwänden, seinen Vorschlägen von der untersten bis zur obersten Etage des Turms, bis zu Thuls einzigem Baum und wieder zurück. So lange bedrängt er sie mit seinen Fragen, bis Esther eines Abends die Geduld verliert. Sie dreht sich zu ihm um, kniet sich nieder und beginnt zu sprechen, und wie schon einmal, vor vielen Jahren, als sie vor der Truvener Versammlung sprach, liegen und schmecken die Worte fremd auf ihrer Zunge.
    »Wir können Thul nicht verlassen«, sagt sie und legt Jonathan die Hände auf die Schultern. »Denn im Meer lebt etwas, das keinen Namen hat. Es ist älter als alle Menschen und älter als alle Sprachen. Heute nennen wir es den Taucher, weil es keine Luft braucht und keine Sonne. Nur fühlt er sich bisweilen einsam, dann steigt er hinauf und holt sich ein Kind. Das behält er für immer dort unten und stiehlt ihm den letzten Atem und spricht in der Sprache der Fische zu ihm.«
    Nachdem Esther den Taucher ins Leben gerufen hat, wünscht sie sich oft, sie könnte ihn wieder zurücknehmen, wie ein böses, unachtsam gesprochenes Wort. Denn die Erzählung setzt sich fest in Jonathans Kopf. Um die größtmögliche Entfernung zwischen sich und dem Meer zu wissen, schläft er im höchstgelegenen Zimmer. Doch stiehlt sich der Taucher in seine Träume, kriecht vom Wasser ans Land, saugt sich fest an der Fassade des Turms und nähert sich, Stein um Stein, dem geöffneten Fenster. Beinahe jede Nacht schreckt Jonathan auf. Hat ihn ein Schaben geweckt? Und ist es vom Fenster gekommen?
    Wenn er aufspringt und zum Fenster eilt, um daran zu rütteln, reißt es auch Esther im Zimmer unter seinem aus dem Schlaf. Während er in wachsamen Kreisen durch den Raum läuft, zittern der Boden unter seinen Füßen und die Decke über ihrem Kopf. Esther mag ihm noch so oft versichern, dass es keinen Grund gebe, sich zu fürchten, und der Taucher nie an Land komme, doch auch in den Sommermonaten, wenn Jonathan kaum Schlaf findet im stickigen Zimmer, hält er sein Fenster stets geschlossen.
    *
    Alles ändert sich. Immer. Und auf Thul beginnt die Veränderung mit einem Brief.
    Eines Tages, als Esther bereits im Turm verschwunden ist, um die Kartoffeln zu kochen, die Peter ihnen

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