Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Ohren, sondern geht durch ihren Körper wie ein wispernder Wind.
Auf Maas aber gibt es nichts zu tun, und um sich die Ungeduld auszutreiben, rennt sie in immer schnelleren Kreisen um den Turm, wirft zornig Steine und Muscheln nach den Möwen. Es ist nur eine Frage der Zeit, spürt Muriel, bis sie in das Meer springen, Klaras Warnungen in den Wind schlagen und sich Zug um Zug und über die Grenze hinweg von Maas entfernen wird.
In der Zwischenzeit werden die Inseln kleiner. Vor Jahren schon, lange vor Esther und Klara, lange vor Thomas und Kristian begann das unersättliche Meer, Thul und Maas in seine Umarmung zu schließen, sie zu sich heran- und in sich hineinzuziehen.
Es gibt nur eines, was Jonathan ebenso sehr fürchtet wie den Taucher, und das ist Thuls Verschwinden. Vor dem Einschlafen lauscht er dem Wasser, wie es sich gegen die Klippen wirft und mit tausend Zungen an den Steinen leckt. Immer seltener malt er Muriel Sonnenuntergänge und Möwen, immer öfter schreibt er ihr von seinen Ängsten. Doch Muriels Briefe sind ihm längst kein Trost mehr. Sie schreibt vom Land und der Sonne, wenn es doch um das Meer und die Nacht geht. Und befremdliche Worte sprießen wie Unkraut, wachsen und wuchern: ob ihm die Insel nicht ohnehin zu eng scheine. Wie unendlich öde das Leben hier draußen sei. Nichts Neues zu sehen, nichts zu entdecken. Und weiter, dass sie jeden Stein bereits umgedreht habe, dass sie um jede Rille in jeder Muschel wisse und nun bald die Sandkörner des Maaser Strandes zählen werde.
Um sie aufzumuntern, beginnt Jonathan mit einer aufwendigen Zeichnung des einzigen Thuler Baumes. Jedes Blatt und jede Furche überträgt er genau. Hänge es an eine Wand, neben die übrigen Bilder, schreibt er, setz dich davor und stell dir vor, du wärst bei mir auf Thul und wir säßen unter den Zweigen.
Muriel aber möchte sich nichts mehr vorstellen, und sie möchte auch nichts mehr wissen von Thuler Gewächsen. Stattdessen schreibt sie ihm von den exotischen Blumen, die sie auf Klaras Bildern gesehen hat. Scharlachrot seien ihre Blätter und ihr Duft so süß wie ihre Farben leuchtend. Hast du von den Bergen gehört, fragt sie ihn, die so hoch sind, dass man den Mond berühren kann, wenn man ganz hinaufklettert?
Jonathan ärgert sich über die exotischen Blumen. Warum sollte ein süßer Duft besser sein als ein salziger? Jonathan ärgert sich auch über die Berge und den Mond. Wer ist verrückt genug, den Mond anfassen zu wollen? Wahrscheinlich fühlt er sich bloß kalt und staubig an.
Besser trist als gefährlich, antwortet er verärgert, besser öde als lebensbedrohlich. Und du vergisst, dass ich die Insel auch dann nicht verlassen könnte, wenn ich es wollte. Du vergisst den Taucher.
Aber was ist mit Peter und Paul?, fragt Muriel zurück. Woche um Woche wagen sie sich aufs Meer, und keinem von beiden ist je etwas zugestoßen. Und was ist mit mir? Unzählige Male bin ich im Meer geschwommen. Der ein oder andere Fisch ist mir dort draußen begegnet, aber nichts, was man als Taucher bezeichnen könnte.
Muriels Worte kreisen ihm beharrlich im Kopf herum. In all den Jahren hat er den Taucher nie tatsächlich gesehen, ihn nie tatsächlich gehört. Für ihn ist er nicht mehr als eine Geschichte der Mutter, die wahr sein mag oder auch nicht.
Muriel hingegen ist keine Geschichte. Sie hat eine Hand, die man halten, eine Stimme, die man hören könnte. Und vielleicht ist sie unruhig wie ihre Briefe, in denen die Worte nur so umherspringen, in denen Sätze ausgestrichen und mit neuen überschrieben werden, in denen die Schrift schlenkert wie Möwen in der Luft, wenn der Wind besonders stark geht. Und vielleicht riecht sie salzig wie das Meer, und vielleicht würde sie ihn anschauen, so wie Peter seine Mutter anschaut.
All das aber wird er kaum herausfinden, solange er auf Thul und Muriel auf Maas bleibt.
Abends bevor er sich ins Bett legt, geht Jonathan an den Strand. Während die Sonne langsam schwindet und der Mond sich an ihren Platz schiebt, wechselt das Meer seine Farben. Bald schon nimmt das Grau im Blau die Überhand, verdunkelt sich, bis das Wasser beinahe schwarz scheint. Der Mond setzt einen breiten Streifen bleichen Lichts in seine Mitte. Jonathan muss nie besonders lange warten, bis er meint, eine rasche Bewegung auszumachen, einen dunklen Kopf, der sich aus den seichten Wellen hebt, ein Augenpaar, das ihn anstarrt.
In der Ferne sieht er den Lichtkegel des Maaser Leuchtturms. Ob Muriel bereits
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