Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
besonders tief, und ist das Wasser besonders schwarz? Und fürchtest du dich so wie ich mich fürchte? Und geht es dir nur heute so oder jedes Mal, wenn du zu uns nach Thul fährst, und warum fährst du trotzdem, fährst du wegen Esther? Gerade will er Peter nach Esther fragen, als etwas aus dem Wasser schießt.
Im Nachhinein wird er nicht sagen können, ob es Arme oder Hände, Schuppen oder Tentakel gewesen sind. Der Taucher bewegt sich schneller als Jonathan je einen Menschen, einen Fisch, einen Vogel sich hat bewegen sehen. Die Zeit und der Raum brechen auseinander: Wie bei dem Kaleidoskop, das Peter ihm vor Jahren schenkte, zerfällt das Bild vor ihm in hundert Einzelteile. Hier sind dürre Arme, die sich um Peter schlingen, hier ist gräulich glänzende Haut, hier sind pechschwarze Schuppen und ein klaffender Riss voller spitzer Zähne. Als der Taucher aus dem Meer und an die Luft schnellt, da ändert das Wasser seine Beschaffenheit, seine Farbe und seinen Geruch. Wie graubrauner Schlamm schwappt es gegen das Boot, wie Nebel hüllt es Jonathan in einen Gestank aus Fäulnis und Verwesung ein. Jonathan lässt sich von dem Bänkchen auf den Boden fallen, zieht die Arme über den Kopf und die Knie an. So verharrt er einige Augenblicke. Als er wieder aufblickt, ist Peter verschwunden.
Vergebens wartet er auf Schreie, aufsteigende Luftblasen, vergebens wartet er auf Peter, der sich zurück an die Wasseroberfläche kämpft. In der Welt bleibt es still, nur in Jonathans Kopf schwirrt und surrt es, die Angst schneidet durch seine Gedanken und lässt nichts als Fetzen zurück: ich soll, ich muss, Mutter, wie kann ich, Hilfe, still bleiben, zurück, Peter, wo ist, ich muss, nach Hause. Nach Hause.
Er muss nach Hause gerudert sein.
Aber davon weiß er nichts mehr.
Er muss an die Tür des Turmes gehämmert haben.
Aber davon weiß er nichts mehr.
Esther muss ihn hineingelassen haben.
Aber davon weiß er nichts mehr.
Erst, als er neben dem Feuer sitzt, findet er sich wieder in seinem Kopf, in seinem Körper. Seine Kleider sind nass, seine Finger klamm. Er trinkt Tee in großen Schlucken, um sich den fauligen Geschmack aus dem Mund zu spülen. Unterdessen redet er auf Esther ein, spricht von Muriel und den Briefen und Peter, dem Meer und dem Taucher.
Manches versteht Esther, manches versteht sie nicht. Draußen im Sand liegt Peters Boot; von Peter selbst ist nichts zu sehen. Ein Unglück muss geschehen sein. Doch warum ihr Sohn, der das Meer und die Nacht fürchtet, sich in beides hinausgewagt haben sollte, kann sie sich nicht erklären.
*
Während Muriel auf den Klippen sitzt und Ausschau hält, zweifelt sie nicht an Jonathan. Er wird kommen. Einmal glaubt sie, noch unweit von Maas ein Boot zu erspähen. Sie springt auf, kneift die Augen zusammen. Die Sterne sind besonders spärlich gesät, das Mondlicht ist besonders schwach, und bald ist sie nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich ein Boot gesehen oder ob ihr das Meer bloß einen Streich gespielt hat.
Als einige Stunden später die Sonne aufgeht, wartet sie noch immer.
Der nächste Tag ist gefüllt mit Stunden, die leer und schwerelos sind. Das Leben auf der Insel, gleichförmig und vorhersehbar, läuft weiter, als hätte es nie einen Brief gegeben, nie einen Plan, keine durchwachte Nacht auf den Klippen; der Gemüsegarten ist noch immer der Gemüsegarten, der Turm noch immer an Ort und Stelle. Dabei sollte der Himmel anders sein und das Meer und sie selbst. Er wird kommen, denkt sie, während sie vom Gemüsegarten zurück zum Turm läuft, aber der Gedanke passt so wenig wie ein alter Schlüssel in ein neues Schloss.
Sie versucht sich an: Wird er kommen?
Sie versucht sich an: Was, wenn er nicht kommen wird?
Und ein letztes Mal: Er wird kommen.
Sie prüft das Gewicht der Sätze, hält sie gegen das Licht und spürt, welcher unter ihnen der wahrste ist. Paul bemerkt sie erst, als er bereits vor ihr steht. Das letzte Er wird kommen noch auf den Lippen, stolpert sie gegen ihn. Und noch bevor sie den Kopf hebt und Paul ansieht, noch bevor er den Mund öffnet und das erste Wort spricht, weiß sie, dass ein Unglück geschehen sein muss.
Am Esstisch, zwischen Muriel und Klara sitzend, erzählt Paul von der vergangenen Nacht, in der Peter zwar aufbrach, aber nie zurückkehrte.
Wohin Peter mitten in der Nacht hätte fahren wollen, fragt Klara, ob er nichts zum Abschied gesagt, ob er nichts erklärt habe. Muriel schaut nicht Paul an und nicht die Mutter, vertieft
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