Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
fürchten müsste. Es gibt kein Versprechen, keine glaubhaften Versicherungen. Muriel aber braucht weder das eine noch das andere. In ihrem Brustkorb sitzt ein Tier, ein Vogel mit gewaltiger Flügelspanne. Wann immer sie an Jonathan denkt, dann spreizt er seine Flügel, drängt sie hinaus aufs Meer, fort von der Insel und Jonathan entgegen. Wenn sie das Ziehen in den Schulterblättern spürt, das Klopfen, das Pulsieren in der Brust, dann ist kein Hindernis, keine Grenze, keine Gefahr von Belang.
Trägt man es aber nicht in sich, versteht sie, machen alle Briefe der Welt keinen Unterschied.
Alle Briefe, bis auf einen vielleicht. Und dieser besteht aus gerade einmal zwei Sätzen:
Morgen, schreibt sie, komme ich zu dir. Warte auf den Klippen.
Spät in der Nacht verlässt Klara den Turm, läuft zu den Klippen, betrachtet den Mond und das Meer. In Truven behaupten einige der Fischer, sie könnten den Regen riechen und spüren, wie ein Sturm in den Wolken aufzieht. Klara weiß wenig vom Himmel und nichts über den Regen. Aber auch im Meer kann es stürmen, und jene Unruhen spürt sie in den Fingerspitzen, kann sie den tieffliegenden Möwen und den Fischen im Wasser ansehen.
Sie muss schon eine Weile so gestanden haben, als sie Schritte in ihrem Rücken hört, und wie sie gleich hinter ihr zum Stillstand kommen. Sie will sich Muriel zuwenden, doch in der Drehung verliert sie die Insel und die Tochter, fallen die Jahre von ihr ab und sie findet sich wieder in Truven, am Tag ihres eigenen Aufbruchs und in dem Wissen, dass nichts und niemand, keine Bitte, keine Warnung, kein Verbot sie zurückhalten könnte.
Klara blinzelt und Truven verschwindet und Maas taucht auf, und Muriel vor ihr.
»Vergiss nicht, was ich dir über die Grenze erzählt habe«, sagt Klara, und weiß doch selbst: Wenn alles, wonach man sich sehnt, jenseits der Grenze liegt, macht es keinen Unterschied, dass man nicht wieder hinter sie zurück kann.
Muriel lehnt ihre Stirn gegen Klaras, zunächst nur leicht, dann mit mehr Druck; sie wünscht sich, Klaras Gedanken, ihr Wissen um den verschneiten Wald, den vereisten Fluss, die Einöde und den Rand der Welt könnte von Kopf zu Kopf und durch die Knochen wandern. Einen Moment noch stehen sie so, dann löst Muriel sich, wendet sich ab und tritt bis an die äußerste Kante der Klippe.
Als Muriel von einer Dunkelheit in die andere übergeht, die unsichtbare Grenze zwischen Wasser und Luft durchdringt, umfassen tausend kleine Hände ihren Körper, legen sich auf die Nase, den Mund, und rauben ihr mit flinken Fingern den Atem. Sie hustet, schluckt Wasser, schlägt blind nach den Händen, windet sich aus ihren tausend Griffen und bricht aus dem Wasser hervor. Mit schnellen Zügen entfernt sie sich von Maas.
*
Es geschieht in dieser Nacht.
Hier sind die Sterne, hier ist der Mond.
Hier ist Maas.
Hier ist Thul.
Hier ist das Meer zwischen den zwei Inseln.
Hier ist Jonathan. Er liegt nicht in seinem Bett, sondern sitzt auf dem Boden. In seinen Händen hält er den Brief, den er so oft zusammen- und auseinandergefaltet hat, dass sich das Papier weich und ein wenig wächsern anfühlt. Obwohl er Muriels Worte bereits auswendig kennt, ergeben sie noch immer keinen Sinn: Sie will zu ihm kommen. Ohne Boot. Und trotz des Tauchers.
Ist es möglich, fragt er sich nicht zum ersten Mal, dass sie ohne Furcht ist? Oder gelingt es ihr bloß, ihre Ängste zu zähmen, zu bündeln, sie auf ihren Rücken zu schnüren und sich trotz ihrer Last frei und sicher zu bewegen?
Er schließt die Augen und spürt seine Geister auf: den Taucher, wie er an Land kriecht, und Peter, wie er tief unter Wasser in seinem silbrigen Gefängnis schwebt. Er drängt sie zurück, treibt sie aus den kreisenden Gedanken, dem pochenden Herzen und den zitternden Händen.
Wie schon einmal zuvor schleicht er sich die Wendeltreppe hinunter, durch das Zimmer der schlafenden Esther und aus dem Turm. Dieses Mal wartet niemand auf ihn; der schmale Streifen Sand ist verlassen. Er sieht ein letztes Mal zurück zum Turm, dann schiebt er Peters Boot ins Wasser.
Alles ist, wie Klara es Muriel beschrieben hat: Jeder Zug bringt sie kaum merklich und ein kleines Stück weiter vom Ufer fort. Die unbekannte Welt offenbart sich ihr nicht plötzlich, sondern färbt das Wasser klammheimlich und ganz allmählich in ein dunkleres Blau.
Auf dem Grund des Meeres, an einem Ort ohne Worte, kommt der Taucher zu sich. Einen Spaltbreit nur öffnet er die Augen, überblickt
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